Juli Zeh: Corpus Delicti und Dave Eggers: Der Circle: Unterschied zwischen den Seiten

Aus ZUM-Unterrichten
(Unterschied zwischen Seiten)
(Teil des Netzwerks Utopie/Dystopie)
 
(Teil des Netzwerks Utopie/Dystopie)
 
Zeile 1: Zeile 1:
'''''Corpus Delicti. Ein Prozess''''' ist der Titel eines 2009 erschienenen [[Roman]]s der 1974 in Bonn geborenen Schriftstellerin''' [[Juli Zeh]]'''.
'''Der Circle''' ist ein Roman von Dave Eggers. Er ist 2013 auf Englisch erschienen, 2014 auf Deutsch herausgekommen und schildert Zustände, wie sie sich bei einer Verlängerung heutiger Entwicklung von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken in der Zukunft ergeben könnten.  


== Zitate ==
Ähnlichkeiten des Handlungsaufbaus ergeben sich mit [[Lernpfad Schöne Neue Welt|Schöne neue Welt]], "1984" und [[Juli Zeh:Corpus Delicti]].
{{Box|Zum Vorausdenken|
== Worum geht's ==
Die Heldin heißt Mae. Der Inhalt ist in den Worten der Wikipedia der folgende:
"Mit Unterstützung ihrer Freundin Annie, die bereits einen einflussreichen Posten in der Firma hat, bekommt die 24-jährige Mae Holland einen Job bei dem weltweit dominierenden Internet-Unternehmen Circle. Das kalifornische Unternehmen hat die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter übernommen und will die gesamte Bevölkerung mit jeweils einer einzigen Internetidentität ausstatten, was zur umfassenden sozialen Kontrolle führen soll. Mae wird schnell zur Vorzeigemitarbeiterin, antizipiert die Pläne des Unternehmens und lebt die vollständige Transparenz vor. Sie wird zur Ideengeberin für die Unternehmensspitze, hat aber auch gegen Widerstände aus ihrer Familie, von ihrem Ex-Freund und von einem mysteriösen Fremden zu kämpfen." ({{wpde|Der Circle}})


Was fällt Dir zu diesen Zitaten ein? Welche Erwartungen wecken sie?
{{Box|Fragen zur Beurteilung|
* Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen der Organisation "Circle" und Google, Facebook, Twitter, anderen sozialen Netzwerken  sowie  {{wpde|Transparency International}}?
* Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen der Situation Maes und der von prominenten Politikern und Stars?
* Wie sind die drei Mottos des Circle, die Bailey und Mae entwickeln, zu beurteilen?
* Inwiefern passt Mae gut zum Circle, inwiefern weniger?
* Wie wird Mae von ihren Erfahrungen im Circle beeinflusst?
: Wie verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt, wie das zu sich selbst?
: Weshalb verschlechtert sich ihr Verhältnis zu Annie, weshalb das zu Kalden?
* Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen dem Roman "Der Circle" und den Romanen "1984", {{wpde|Schöne neue Welt}}, [[Juli Zeh: Corpus Delicti]] sowie dem Film {{wpde|Die Truman Show}}?
* Ist die Kritik, die "Der Circle" an großen Internetkonzernen übt, angemessen?
* Bei Eggers scheint die Finanzwelt ausgeklammert aus einer Netzwelt, die massenpsychologisch aber nicht renditeorientiert orientiert ist. Gibt es neben 'Circle' - Interessen keine Finanzmarkt - Interessen?
* Wie ist der Roman von seiner literarischen Qualität her einzuordnen?
|Unterrichtsidee}}


:"Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann." (S.28, S.46)
== Textausschnitte ==
''Die hier angeführten Zitate erfassen bei weitem nicht alle zentralen Stellen. Das geschieht einerseits um das Lesevergnügen, andererseits, um die Gelegenheit zur Eigeninitiative zum Herausfinden solcher Stellen nicht zu zerstören.''


:"Wäre ich ein Hund - ich würde mich ankläffen, damit ich nicht näher komme." (S.54)
=== Erstes Buch ===
''Mae und Annie''
{{Zitat|Annie brachte sie ins Krankenhaus und wartete, während Maes Kiefer verdrahtet wurde, und sie blieb die ganze Nacht bei Mae am Bett, schlief auf einem Holzstuhl, und zu Hause dann versorgte sie Mae tagelang, während die nur durch einen Strohhalm essen konnte. Ein so hohes Maß an resolutem Engagement und Tüchtigkeit hatte Mae noch bei niemandem in ihrem Alter oder ungefähr in ihrem Alter erlebt, und von da an war sie auf eine Art loyal, wie sie es sich selbst nie zugetraut hätte.|S.8-9)}}


:"Glücklicherweise gibt es heute moderne Formen der Erkenntnisgewinnung, die das Geständnis ersetzen können." (S.119)
''Mae vergleicht den Rest von Amerika mit dem Circle''
|Zitat}}
{{Zitat|Ihre Heimatstadt und der Rest von Kalifornien, der Rest von Amerika kamen ihr vor wie das heillose Chaos in einem Entwicklungsland. Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen. Die besten Leute hatten die besten Systeme gemacht, und die besten Systeme hatten Geldmittel eingebracht, unbegrenzte Geldmittel, die das hier möglich machten: den allerbesten Arbeitsplatz. Und es war ganz logisch, dass dem so war, dachte Mae. Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?|(S.41)}}


==Worum geht‘s==
''Mae wird in ihre Arbeit eingeführt''
Die Handlung spielt in der Mitte de 21. Jahrhunderts in einer Gesellschaft, die sich dem Erhalt der Volkgesundheit gewidmet hat, genauer: Es ist eine Gesundheitsdiktatur, eine Nachfolge-Staatsform zur Demokratie des 20. Jahrhunderts, die sich "Methode" nennt. Jeder Mensch ist einem permanenten Gesundheitscheck unterworfen und über einen eingepflanzten Chip kontrollierbar, er muss ein tägliches Mindestmaß an körperlicher Ertüchtigung nachweisen, Rauchen und Alkohol sind verboten, ständig wird desinfiziert, die einzige Zeitung heißt "Der gesunde Menschenverstand" usw. Aber es gibt auch eine Art Widerstandsgruppe, die sich Recht auf Krankheit, abgekürzt R.A.K. (!), nennt.
{{Zitat|Das hier soll ein Ort der Arbeit sein, klar, aber es sollte auch ein Ort der Menschlichkeit sein. Und das bedeutet die Förderung von Gemeinschaft. Besser gesagt, es muss eine Gemeinschaft, eine Community sein. Das ist einer unserer Slogans, wie du wahrscheinlich weißt: Community First. Und du hast die Schilder gesehen, auf denen steht Hier arbeiten Menschen [...] Der Satz gefiel ihr: Hier arbeiten keine Roboter.|(S.59-62)}}


In dieser Gesellschaft lebt die 34-jährige Naturwissenschaftlerin Mia Holl. Ihr Bruder Moritz, 27, war ein Freigeist und wollte sich nicht anpassen, seine Schwester Mia bewundert ihn dafür. Er ist jetzt tot, er wollte sich in einem Blind Date mit einer jungen Frau treffen, die kurz danach tot aufgefunden wurde, in ihrem Körper fand man Sperma mit der DNA von Moritz. Moritz stritt jegliche Schuld hartnäckig ab, der DNA-Beweis wurde als unumstößliches Indiz bewertet, vor der Verurteilung erhängte sich Moritz in seiner Zelle mit einer Angelschnur, die Mia ihm zugesteckt hat.
''Mae trifft auf Kalden''


Seitdem ist Mia aus dem Gleichgewicht, raucht, geht nicht zur Arbeit und führt Selbstgespräche (mit der "idealen Geliebten", einer Art Stimme ihres Bruders). Sie gerät also mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt, zeigt keine Besserung udn es kommt schließlich zur öffentlichen Verhandlung. Auf dieser lässt der junge Pflichtverteidiger Rosentreter eine "Bombe platzen": Weil Moritz als Kind Leukämie hatte und nur durch eine Kur mit Spenderstammzellen geheilt werden konnte, ist seine DNA mit der des Spenders identisch, er ist also unschuldig, der Täter ist der Stammzellenspender.  
{{Zitat|Mae hatte die Toilette fast erreicht, als sie einen Mann sah, der in einer hautengen grünen Jeans und einem knappsitzenden langärmeligen T-Shirt auf dem Flur unter einem hohen schmalen Fenster stand und auf sein Handy starrte. In blauweißes Licht getaucht, schien er auf Anweisungen von seinem Display zu warten. Mae betrat die Toilette.


Das ist ein Triumph nicht nur für den Verteidiger und Mia, sondern auch für die oppositionellen Kräfte; Demonstrationen und Protestversammlungen finden statt, Mia wird zu deren Galionsfigur.  
Als sie fertig war und wieder herauskam, stand der Mann an derselben Stelle, bloß dass er jetzt zum Fenster hinausschaute.
»Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen«, sagte Mae.
»Nee. Muss bloß über was nachdenken, ehe ich nach oben gehe. Arbeitest du hier drübenr«
»]a. Ich bin neu. In der CE.«
»CE?«
»Customer Experience.«
»Ach so, ja. Wir haben früher einfach Customer Service gesagt.«
»Dann bist du wohl nicht neu?«
»Ich? Nein, nein. Ich bin schon eine ganze Weile dabei. Aber weniger in diesem Gebäude.« Er lächelte und blickte aus dem Fenster, und da er das Gesicht abgewandt hatte, betrachtete Mae ihn genauer. Er hatte dunkle Augen, ein ovales Gesicht und graues, fast weißes Haar, aber er konnte nicht älter als dreißig sein. Er war dünn, sehnig, und die hautengen Klamotten, die er trug, verliehen seiner Silhouette den Eindruck flinker, dick-dünner Kalligrafie-Pinselstriche.


In dieser Situation lässt Mia eine Art Misstrauens-Manifest gegen die Methode und ihre Vertreter veröffentlichen, auch gegen den Rat ihres Verteidigers. Damit zwingt sie die Staatsmacht, schnell und brutal zu reagieren, bevor die Stimmung endgültig umkippt. ...
Er wandte sich ihr wieder zu, blinzelte und lachte leise über sich und sein schlechtes Benehmen. »Entschuldige. Ich bin Kalden.«
»Kalden?«
»Das ist tibetische, sagte er. »Es bedeutet irgendwas mit ''golden''. Meine Eltern wollten immer mal nach Tibet, sind aber nie weiter als Hongkong gekommen. Und wie heißt du?«


{{Box||
»Mae«,sagte sie, und sie schüttelten sich die Hände. Sein Handschlag war fest, aber flüchtig. Man hatte ihm beigebracht, wie man Hände schüttelte, vermutete Mae, doch er hatte nie einen Sinn darin gesehen.
Die Lektüre ist durchaus spannend, aber auch ärgerlich. Das durch und durch Konstruierte, gewollt Thesenhafte dieser Geschichte ist sowohl eindringlich als auch aufdringlich. Das ist Literatur mit einer deutlichen Botschaft, etwas schräg in der Tradition der Anti-Utopie (Dystopie) stehend und angestrengt um hohes intellektuelles Niveau bemüht. Die Diskussionen der Antagonisten sind zuweilen höchst abstrakte Diskurse über Wertfragen wie Freiheit, Glück, Selbstbestimmung, Recht auf Widerstand, abstraktere Themen und Diskussionen gibt es fast kaum (außer in Juli Zehs "Schilf", wo es um kosmologische Theorien geht.)


Andererseits ist diese Thematik höchst relevant und spricht nicht nur den anspruchsvollen, gesellschaftspolitisch interessierten Leser an. Manchmal liest man mit Staunen über und Bewunderung für soviel Gedankenschärfe und Sprachkraft der Autorin.  
»Dann hast du dich also nicht verlaufen«, sagte Mae, der klar wurde, dass sie längst wieder an ihrem Schreibtisch sein müsste; sie hatte sich heute schon einmal verspätet. Kalden spürte das. »Oh. Du musst los. Darf ich dich begleiten? Nur um zu sehen, wo du arbeitest?«
»Ähm«, sagte Mae, jetzt sehr verunsichert. »Klar.« Wenn sie es nicht besser gewusst hätte und nicht den Ausweis gesehen hätte, den er an einer Kordel um den Hals hängen hatte, hätte sie diesen Kalden mit seiner deutlichen, aber vagen Neugier für jemanden gehalten, der von der Straße aus Versehen hereingeschneit war oder gar für einen Industriespion. Aber was wusste sie schon? Sie war erst eine Woche beim Circle. Das hier könnte irgendein Test sein.
Oder bloß ein exzentrischer Kollege. Mae führte ihn zu ihrem Schreibtisch.


Es ist aber einfach zu viel des Guten, die dargestellte Gesellschaft und ihre Machtmechanismen sind alles andere als subtil, sondern einfach brutal und plump, die klugen Diskussionen darüber wären eigentlich zum Verständnis dieser Brutalität und Plumpheit nicht nötig, zumindest nicht in dieser Aufdringlichkeit. Es ist, als gebe der Roman dem Leser immer noch Verstehenshilfen, dabei ist diese Neu-Welt in der Thesenhaftigkeit und Holzschnittartigkeit ihrer Darstellung allzu schnell durchschaut und in das Böse eingeordnet.  
»Der ist sehr aufgeräumt«, sagte er.


Fazit: Ich als Leser bin fasziniert und beleidigt zur gleichen Zeit, oder - "um es mit dem Lieblingswort der Ratlosen zu sagen" (S. 126) - ambivalent.  
»Ich weiß. Ich hab ja auch gerade erst angefangen.«


--[[Benutzer:Klaus Dautel|Klaus Dautel]]|Meinung}}
»Und ich weiß, manche der Drei Weisen mögen es, wenn die Circle-Schreibtische sehr ordentlich sind. Hast du die hier schon mal gesehen?«
»Wen? Die Drei Weisen?« Mae schnaubte. »Hier nicht. Jedenfalls noch nicht.«
»]a, kann ich mir denken«, sagte Kalden und ging in die Hocke, sein Kopf auf Höhe von Maes Schulter. »Kann ich mal sehen, was du so machst?«
»Was ich arbeite?«
»Ja. Darf ich zuschauen? Ich meine, natürlich nur, wenn es dir nicht unangenehm ist.«


==Stimmen==
Mae stutzte. Hier im Circle hielt sich ihrer Erfahrung nach alles und jeder an ein logisches Modell, einen Rhythmus, doch Kalden war die Anomalie. Sein Rhythmus war anders, atonal und seltsam, aber nicht unangenehm. Er hatte ein ausgesprochen offenes Gesicht, feuchte, sanftmütige, bescheidene Augen, und er sprach so leise, dass jede Art von Bedrohung ausgeschlossen schien.
*Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2007, Nr. 217, S. 37
:"Da liegt der Zukunftshund begraben
:Was morgen geschah: Neue Stücke von Juli Zeh und Lutz Hübner in Essen uraufgeführt
:… In "Corpus delicti" versetzt die 1974 in Bonn geborene Autorin und Juristin, die das '''Stück für die Ruhrtriennale''' geschrieben hat, Fragen in die Zukunft, die, satirisch überhöht, auf die Gegenwart zurückschlagen: Vor allem das Verhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und dem Sicherheitsschutz des Staates wird argumentativ und rhetorisch pointiert durchgespielt. Doch diskurslastig und überkonstruiert, läuft das Stück Gefahr, die Sterilität, in der es den allzu monolithisch auf sein Gesundheitssystem verengten Zukunftsstaat zeichnet, selbst anzunehmen. Die Regisseurin Anja Gronau verknappt das überbordende Drama und destilliert seine Thesen. Sabine Kohlstedt hat dafür in der Maschinenhalle der Zeche Carl in Essen einen Raum gebaut, in dem auf allen vier Seiten milchglasverkleidete Zuschauerreihen hochsteigen: Auf dem kleinen Bühnenquadrat in der Mitte lässt die Uraufführung den Fall als weitgehend bildloses Sprechtheater ablaufen, in dem nur die burschikos die wilden Seiten der Figur aufdeckende Anne Ratte-Polle als Mia Holl und der altfreakige Christoph Luser als Bruder den schauspielerischen Ansprüchen eines Festivals genügen. Vielleicht sollte man das Stück einfrieren, um es in dem Jahr, in dem es spielt, wieder aufzutauen. Juli Zeh wird dann vierundachtzig und die Gesellschaft wohl eher Anlass haben, darüber zu lachen.


*Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.02.2009, Nr. 50, S. Z5
»Klar, Meinetwegen«, sagte sie. »Es ist aber nicht besonders aufregend.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. «
:"Geruchlos im Hygieneparadies
:Die Diktatur der Vorsorge als Enteignung der Gegenwart: Mit ihrer negativen Utopie "Corpus Delicti" rührt Juli Zeh an den Nerv unserer zutiefst verängstigten Gesellschaft. Von Christian Geyer
:Ein Wort, so unendlich menschenfreundlich und vernünftig: Prävention. Wer wollte sich schon dem Gedanken der Vorsorge widersetzen? Es wird Zeit, das totalitäre Potential der Präventionsidee sichtbar zu machen: Vorsorge ist prinzipiell unbegrenzt. Es gibt nichts, was unter dem Vorwand der Vorsorge nicht einklagbar wäre. Im Nu steht man rechtelos im Hemd da, wenn an eine bessere Zukunft appelliert wird, der man sich - so die Präventionsrhetorik eines jedes Krisenregimes - im Ernst ja wohl nicht widersetzen wolle. So aber wird schrittweise eine Enteignung der Gegenwart im Zeichen der Zukunftsvorsorge betrieben. Obwohl immer mehr Lebensbereiche von der Prävention durchherrscht werden, liegt die Kulturkritik dieser Herrschaftsfigur brach. Erst recht gibt es bisher keinen erzählerischen Versuch, hinter dem Vorsorgeanspruch den permanenten Ausnahmezustand sichtbar zu machen.
:Das ist mit dem Buch "Corpus Delicti" nun schlagartig anders geworden, ein Buch, das an den Nerv unserer zutiefst verängstigten Gesellschaft rührt. …“


*[http://www.seanne.at/juli-zeh-corpus-delicti/ Eva Bäck in ihrem Blog] - "für Literatur und Kunst":
Und dann sah er zu, wie Mae Anfragen beantwortete. Wenn sie sich ihm nach jedem scheinbar banalen Teil ihres Jobs zuwandte, tanzte der Bildschirm hell in seinen Augen, und sein Gesicht wirkte verzückt - als hätte er noch nie in seinem Leben etwas Interessanteres gesehen. In anderen Momenten wirkte er dagegen entrückt, als würde er etwas sehen, das sie nicht sehen konnte. Sein Blick war dann auf den Bildschirm gerichtet, doch seine Augen sahen irgendetwas tief im Inneren. Sie machte weiter, und er stellte weiter gelegentliche Fragen.  
:„Von den Themen und Ideen her also ein wirklich interessantes Buch, aber die Umsetzung hat mich manchmal nur verzweifelt den Kopf schütteln lassen. Das Buch lässt sich zwar angenehm lesen, es ist in kurze, knackige Kapitel unterteilt, kaum Ausschweifungen, aber insgesamt wirkt es sehr künstlich, was sich vor allem in den Dialogen zeigt. Die sind nämlich keine wirklichen Dialoge, sondern dienen hauptsächlich dazu, die Meinungen und Ideen der Autorin zu transportieren. Juli Zehs Sprachstil, der einfach eigen ist und den ich in ihren anderen Büchern aber sehr mochte, ist mir hier zu extrem. Die Protagonisten sind zu einem großen Teil keine wirklichen Menschen, sondern auch Ideenträger: Das Opfer des Systems (Mias Bruder), der Träger und Verteidiger des Systems (Kramer), der idealistische Anwalt (Rosentreter) und so weiter. Ein bisschen mehr Figurentiefe hätte der Geschichte für meinen Geschmack nicht geschadet.“ (www.seanne.at/juli-zeh-corpus-delicti/)


* [http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-64283877.html '''Hexe im Tiefkühlfach'''] Von Wolfgang Höbel, Der Spiegel 21.02.2009
»Wer war denn das?« - »Wie oft passiert das?« »Warum hast du so geantwortet?«
:"Juli Zehs Science-Fiction-Roman "Corpus Delicti" schildert eine Rebellin wider den Gesundheitswahn.
:[...] Juli Zehs Erzählkonzept geht tatsächlich in der Romanform überzeugender auf als in der Bühnenfassung. Die Kunst dieser Autorin besteht gerade im scharfsinnigen Gedanken-Pingpong ihrer Versuchsanordnungen, in einem heiter-diskursiven Furor, wie man ihn sonst nur (hölzerner) von Bernhard Schlink kennt und wie ihn früher Friedrich Dürrenmatt beherrschte.
:Wie diese Schriftsteller auch, so gerät Juli Zeh manchmal ins Schlingern, wenn sie lyrische Pirouetten dreht. Etwa wenn sie ein halb imaginäres, halb roboterartiges Kuschelwesen namens "Die ideale Geliebte" entwirft, mit dem ihre Heldin munter plaudert. Oder wenn sie behauptet, ihre Mia stecke "in der eigenen Haut wie in einem Fangnetz".
:Brillant ist dieser Roman als Kritik der hygienischen Vernunft: wenn seine Helden über die gentechnische Optimierung der Körper streiten, über das Versprechen globaler Sicherheit, über das "Recht auf Krankheit" ...."


* Weitere [http://www.juli-zeh.de/corpus-rezensionen.php Rezensions-Schnipsel von F.A.Z. bis Deutschlandradio] findet man auf der Website der Autorin zusammengestellt
Er war ihr nahe, viel zu nahe für einen normalen Menschen mit den üblichen Vorstellungen von Diskretionsabstand, aber es war überdeutlich, dass er nicht so ein Mensch war - ein normaler Mensch. Während er den Bildschirm beobachtete und manchmal Maes Finger auf der Tastatur, kam sein Kinn ihrer Schulter noch näher, sein Atem leicht, aber hörbar, sein Geruch, ein schlichter nach Seife und Bananenshampoo, erreichte sie mit dem Windhauch, wenn er kurz ausatmete. Das ganze Erlebnis war so eigenartig, dass Mae alle paar Sekunden nervös lachte, weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Und dann war es vorbei. Er räusperte sich und stand auf.


* Und hier äußert sich Juli Zeh  in einem ZEIT-Artikel 2007 zum Thema [http://www.zeit.de/online/2007/41/meldepflicht-patienten  "Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem"]
»So, ich muss dann mal wieder«, sagte er. »Ich verschwinde einfach. Will dich hier nicht aus dem Takt bringen. Wir sehen uns bestimmt mal auf dem Campus.«
:Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben
Und weg war er. |(S.108-112)}}
:...Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Gesetzesinitiative, die Ärzte verpflichten soll, unter Aufhebung der Schweigepflicht bestimmte Patienten bei den Krankenkassen zu melden. Und zwar solche Patienten, die an ihrem jeweiligen Leiden selbst schuld sind. Als Beispiele werden die Folgen von Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen genannt. Die Begründung dieser absurden Idee liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für politische Scheinlogik unter Zugrundelegung verdrehter Prämissen. Eine Nasenoperation stelle einen Eingriff dar, der medizinisch nicht indiziert und vom Patienten frei gewählt sei. Wenn dabei etwas schief gehe, habe der Patient für Folgeschäden konsequenterweise selbst aufzukommen...." (ZEIT online, 5.10.2007)


==Corpus delicti im Unterricht==
''Mercers Kritik an der neuen Art von Sozialkontakt''
*{{zum|http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/zeh/ Juli Zehs "Corpus Delicti. Ein Prozess" |}}  Ein akueller Zukunftsroman in der Kursstufe - Unterrichtsvorschläge und Materialien von K. Dautel (Mai 2012)
{{Zitat|Hör mal, vor zwanzig Jahren war es alles andere als cool, eine Taschenrechneruhr zu haben, richtig? Und wer den ganzen Tag lang zu Hause hockte und mit seiner Taschenrechneruhr spielte, gehörte eindeutig zu denen, die sozial nicht gut klar kamen. Und Beurteilungen wie ''Gefällt mir'' und ''Gefällt mir nicht'' und ''Smile'' und ''Frown'' waren was für Pubertierende. Irgendwer schrieb einen Zettel mit der Frage: 'Magst du Einhörner und Sticker?', und du antwortetest: 'Ja, ich mag Einhörner und Sticker! Smile' So was eben. Aber jetzt machen das nicht mehr nur Teenager, sondern alle, und es kommt mir
* LiteraNova: Corpus Delicti [Taschenbuch] Unterrichtsmodell von Helmut Flad, 48 Seiten, Cornelsen Verlag (August 2011), ISBN 3464616630
manchmal so vor, als wäre ich in eine Zone geraten, in der alles seitenverkehrt ist, eine Spiegelwelt, wo der dämlichste Mist der Welt alles beherrscht. [...]  
===Vergleich von Zehs "Corpus Delicti" mit Fontanes "Stechlin"===
::''Der folgende Vergleich, der eine Zeit lang in dem Wikipedia-Artikel zu „{{wpde|Corpus Delicti (Roman)|Corpus Delicti. Ein Prozess}}“ Platz fand ([http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Corpus_Delicti_(Roman)&oldid=87231480 Link zur Version vom 3.4.2011 um 12:38]), kann vielleicht den Blick auf problematische Seiten der vorliegenden Dystopie schärfen. Da er offenbar eine Schülerarbeit ist, wurde um der dokumentarischen Funktion willen auf jede Verbesserung verzichtet.


{{Zitat|Die Einführung in den jeweiligen Text sowie die Erzählperspektive gleichen sich auffällig: Ein auktorialer Erzähler nimmt den Leser hoch über der aufgespannten Szenerie an die Hand und führt ihn in die Erzählung ein; er zeigt ihm dabei in einer immer mehr aufziehenden Kameraperspektive die den Handlungsort umgebende Natur und bleibt am Ende der Romaneinführung über einer der Hauptfiguren der Erzählung stehen. Hüben wie drüben verweilt zuvor der Erzähler kurze Zeit an einem See, der in beiden Texten merkwürdig unbelebt erscheint. „Alles still hier“ bei Fontane, bei Zeh ist die Blickrichtung umgekehrt, und der See scheint in den Himmel zu blicken. Doch selbst wenn das Zitieren des fontaneschen Romans in Corpus Delicti nur Zufall sein mag, ist ein Vergleich der beiden Erzählungen und ihrer Verfasser durchaus Gewinn bringend, zumal da beide, Fontane wie Zeh, sich als Autoren ihre Zeit verstehen und auch ihre Texte als Produkt zeitgenössischen Lebens verstehen.
Ich bin durchaus sozial aktiv. Für meinen Geschmack reicht's, Aber die Tools, die ihr schafft, erzeugen unnatürlich extreme soziale Bedürfnisse. Kein Mensch braucht diese Menge an Kontakt, die ihr ermöglicht. Das verbessert nichts. Es ist nicht gesund. Es ist wie Junkfood. Weißt du, wie sie das Zeug entwickeln? Die ermitteln wissenschaftlich präzise, wie viel Salz und Fett reingehört, damit du schön weiterisst. Du hast keinen Hunger, du brauchst kein
Junkfood, es gibt dir nichts, aber du isst weiter diese leeren Kalorien. Und genau das fördert ihr. Genau das Gleiche. Endlose leere Kalorien, aber eben die digital-soziale Entsprechung. Und ihr stimmt es genau ab, damit es in gleicher Weise süchtig macht.« |(S.155/156)}}


Die oft zitierte Aussage Fontanes über seinen Roman, dass „zum Schluss ein Alter (sterbe) und zwei Junge heiraten“, ansonsten aber nicht viel im Roman geschehe, kann vielleicht als Programm für die Aussage von Juli Zehs Novelle verstanden werden; zwar hört man in Fontanes Roman die drohenden Veränderungen schon am fernen Horizont als Gewitter aufziehen, doch im Grunde bleibt alles, wenn man Fontane wörtlich nehmen darf, beim Alten. Die Menschen scheinen weitestgehend zufrieden in ihrem andauernden Leben der Nichtveränderung. Sie finden sich in den gegebenen Situationen zurecht und finden ebenso Möglichkeiten, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern, und finden (noch!) ein Auskommen untereinander. Ganz anders in Corpus Delicti: Juli Zeh zeigt in ihrem Text auf, was alles geschehen kann, wenn wir unsere Körper, unsere Lebensbedingungen und unsere sozialen Kontakte immer weiter verbessern wollen. Das ständige Streben nach physischer wie psychischer Perfektion lässt uns in einem ständigen Zustand der Grenzschreitungen schweben, was dem einzelnen Individuum kaum noch Möglichkeiten lässt, sich selbst auch einmal (scheinbar) unperfekt weiterentwickeln zu wollen. Physische Fitness neben psychischer Fitness scheinen das Diktat der derzeitigen Gesellschaftsentwicklung zu sein. Fehler werden nicht mehr akzeptiert, sie eventuell als (didaktisches) Potenzial zu nutzen, bleibt überhaupt nicht mehr die Zeit. Nichtperfektion erscheint dadurch immer als Mangel, ein dauerhaftes Fortschreiten scheint, um überhaupt Schritt halten zu können, notwendig zu sein. Vielleicht bedeutet das Zitieren des fontaneschen Textes auch einmal eine gesellschaftliche Entwicklung als abgeschlossen zu betrachten. Vielleicht soll uns als Leser deutlich gemacht werden, dass unsere derzeitige Lebensbedingung bereits eine Bereich erreicht hat, der als nahezu perfekt erscheint, und dass jegliches weiteres Streben diese Fastperfektion auch gefährden kann. Die Form der menschlichen Existenz, die in und um Schloss Stechlin noch unbeschwert, ja fast leicht erscheint, ist in Corpus Delicti mehr oder minder zu einer ständigen Anklage des Individuums verkommen. Der Mensch muss sich ständig rechtfertigen: gegenüber seinem eigenen Körper, gegenüber seinem eigenen Geist, gegenüber seinen sozialen Kontakten und vor allem gegenüber der Gesellschaft.
===== Dem Circle wird eine Monopolstellung vorgeworfen =====
{{Zitat|Eine Frau in einem blaubeerfarbenen Kostüm stand hinter einem mit Mikrofonen gespickten Rednerpult, umringt von Helfern und zwei amerikanischen Flaggen. Unter ihr der Nachrichtenticker: SENATORIN WILLIAMSON WILL DEN CIRCLE AUFLÖSEN. Am Anfang war es zu laut in der Lobby, um auch nur ein Wort zu verstehen, doch als einige »Pstl« zischten und jemand die Lautstärke aufdrehte, wurde die Stimme der Senatorin hörbar. Sie war dabei, eine schriftliche Stellungnahme zu verlesen.


Beide Autoren, Fontane wie Zeh, verstehen sich als Gegenwartsautoren; beide besitzen ein ausgeprägtes Gespür für Tendenzen und Entwicklungen ihrer jeweiligen Zeit. Fontane wählt für seinen Roman einen Ort fern jeglichen Großstadtlebens, an dem die Zeit nahezu still zu stehen scheint (dass er es auch anders kann, zeigt er vor allem in seinem Berlinroman „Frau Jenny Treibel“). Zeh demhingegen drehte die Zeit um 50 Jahre nach vorne, um vor allem mögliche Auswirkungen gegenwärtiger Tendenzen aufzuzeigen. Beide Autoren zeigen in ihren Texten Diskurse und Paradigmen ihrer Zeit und setzen diese dadurch auch einer möglichen Kritik aus. Und Fontane wie Zeh verstehen es, aufzeigen, was geschehen könnte, wenn die Gesellschaft zu stark auf bestimmten Paradigmen besteht, beziehungsweise was ein eventueller Paradigmenwechsel mit sich bringen kann.|unbekannter Autor der Wikipedia (IP 88.66.215.146)}}
»Wir sind heute hier, um die Kartellaufsicht des Senats aufzufordern, im Rahmen einer Untersuchung zu klären, ob es sich beim Circle um ein Monopolunternehmen handelt oder nicht. Wir sind überzeugt, dass das ]ustizministerium den Circle als das sehen wird, was er ist, nämlich ein Monopolist im wahrsten Sinne des Wortes, und dass es Maßnahmen ergreifen wird, um das Unternehmen aufzulösen, so wie das bereits mit Standard Oil, At & T und jedem anderen marktbeherrschenden Unternehmen in unserer Geschichte geschehen ist. Die Vorherrschaft des Circle unterdrückt jede Konkurrenz und gefährdet unsere freie Marktwirtschaft.«
'''Aufgabe:'''
* Juli Zeh wie Fontane wählen eine fiktive Hauptperson, um ihre gegenwärtige Gesellschaft zu kritisieren. Wie unterscheidet sich Juli Zehs Verfahren von dem Theodor Fontanes?  --[[Benutzer:Fontane44|Fontane44]] 01:14, 3. Apr. 2012 (CEST)


==Juli Zeh ==
Nach ihrer Erklärung widmete sich der Bildschirm wieder seinem üblichen Zweck, die Gedanken der Circle-Beschäftigten zu feiern, und in dem herrschenden Gedränge wurden viele Gedanken geäußert. Die übereinstimmende Meinung lautete, dass diese Senatorin dafür bekannt war, mitunter Positionen abseits vom Mainstream zu vertreten - sie war gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan gewesen -, und dass sie daher mit ihrem Anti-Monopolkreuzzug wohl kaum Erfolg haben würde.|(S.200/201)}}
* [http://www.schoeffling.de/content/autoren/Juli-Zeh.html Autorenportrait] des Verlags Schöffling & Co
:„Juli Zeh wurde in Bonn geboren und studierte Jura in Passau und Leipzig, wo sie 1998 ihr 1. Staatsexamen machte. Ebenfalls in Leipzig studierte sie von 1996 bis 2000 am Deutschen Literaturinstitut (DLL), an das sie später als Dozentin zurückgekehrt ist. Nach ihrem Diplom am DLL folgte 2003 das 2. Staatsexamen. Zahlreiche Auslandsaufenthalte u.a. für die UN in New York und Krakau und vor allem in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina haben ihre Arbeiten geprägt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, …“


* [http://www.juli-zeh.de/autorin.php www.juli-zeh.de] Webseite der Autorin mit
''Der Circle als Gemeinschaft und die Erwartungen, die sich daran knüpfen''
:Lebenslauf, Studium, Auslandsaufenthalte, Bücher ... Preise und Photos
{{Zitat|Wir sehen dieses Unternehmen als Gemeinschaft, und jede Person, die hier arbeitet, ist Teil der Gemeinschaft. Und damit das alles funktioniert, ist ein gewisses Maß an Partizipation erforderlich. Das ist so, als wären wir eine Kindergartengruppe, und ein Mädchen gibt eine Geburtstagsparty, und nur die Hälfte kommt, was glaubst du, wie sich das Geburtstagskind fühlt?«
:Leseproben, Hörproben, Klappentexte, Essays


*[http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,511197,00.html "Ich verstehe, dass mein Stil viele nervt"]
»Nicht gut. Das weiß ich. Aber ich war bei dem Zirkusevent, und das war toll. Echt toll!«
:"Juli Zeh hat mit "Schilf" einen komplizierten Krimi über Physik und Männerfreundschaft geschrieben. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt sie, warum sie gerne dreiste Metaphern verwendet, wie sehr sie ihr Image als Streberin stört und warum junge Autoren nicht politisch sein dürfen." (Spiegel online, 13. 10. 2007)


* [http://www.donaukurier.de/nachrichten/digital/datenschutz/Frau-wochennl302013-Juli-Zeh-im-Interview-Ein-observierter-Mensch-ist-nicht-frei;art251975,2793492 Julie Zeh: Ein observierter Mensch ist nicht frei], Donaukurier, 19.7.2013
»Es war wirklich toll, nicht? Und es war toll, dich da zu sehen. Aber wir haben keinerlei Beleg darüber, dass du da
warst. Keine Fotos, keine Zings , keine Kommentare, Mitteilungen, Bumps. Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht . Ich schätze, ich war einfach zu gebannt von der-«


==Weitere Werke==
Dan seufzte laut. »Du weißt aber doch, dass wir gern was von Leuten hören, oder? Dass uns die Meinungen der Circler wichtig sind?«
* Adler und Engel. Roman (2001)
»Natürlich.«
* Spieltrieb. Roman (2004)
 
:"Tief im Westen der Republik in unseren Tagen, an einem Bonner Gymnasium, entwickelt sich die atemberaubende Geschichte einer obsessiven Abhängigkeit zwischen einer Schülerin und einem Schüler, Ada und Alev, aus der sich erst die Bereitschaft, dann der Zwang zu Taten ergibt, die alle Grenzen der Moral, des menschlichen Mitgefühls und des vorhersehbaren Verhaltens überschreiten. Die beiden jungen Menschen wählen sich ihren Lehrer Smutek als Ziel einer ausgeklügelten Erpressung. Es beginnt ein perfides Spiel. Ganz ruhig fängt das an: Ada, überaus selbstbewußte Schülerin, vierzehn Jahre alt, kommt neu an ein Gymnasium namens Ernst-Bloch, wo der Alltag sie nicht fordert und die Lehrer meist schwache Gegner beim intellektuellen Kräftemessen sind. Anfangs erregt Ada auf Ernst-Bloch wenig Aufmerksamkeit. Das soll sich ändern im Fortgang dieses Romans.
»Und dass der Circle in hohem Maße auf dem Input und der Partizipation von Leuten wie dir basiert?«
:Während im Großen und Ganzen der Weltpolitik die Fronten von "Gut" und "Böse" unter dem Eindruck von Terrorismus und den Spätfolgen einer zusammengestürzten Weltordnung durcheinandergeraten sind, entwickelt sich im Mikrokosmos auf Ernst-Bloch eine mitreißende Geschichte, die unausweichlich auf eine Kette unerhörter Begebenheiten zuläuft, bis der Lehrer Smutek sich schließlich in einer Gewaltorgie gegen seine Schüler rächt und befreit.
»Das weiß ich.«|(S.206/207)}}
:SPIELTRIEB ist ein großer Roman über die Unmoral und ihre Folgen, letztlich also ein moralischer Roman, der die Fortgeltung von überkommenen Wertprinzipien in Frage stellt und sich damit einer der großen Fragen unserer Zeit annimmt: Wer weiß noch, was gut und was böse ist - und woher kann er das wissen?" (Klappentext)
 
* Schilf. Roman (2007)
''Mae wird gefragt, ob es ihr nicht an Gemeinschaftsgeist und Selbstvertrauen mangelt, wenn sie den Circlern nicht davon berichtet, wie es ihren Eltern geht und dass sie alle paar Monate Kajak fährt.'' (S.210-219)
* Ilija Trojanow & Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit, Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte (2009)
{{Zitat|Und wir sehen, dass so ein Verhalten manchmal von einem geringen Selbstwertgefühl herrührt - von einer Haltung, die besagt: '-Och, was ich zu sagen habe, ist nicht so wichtig.' Meinst du, das gibt ungefähr deine Haltung wieder?«
* Nullzeit. Roman (2012), [http://www.spiegel.de/kultur/literatur/rezension-von-juli-zehs-neuem-roman-nullzeit-a-848036.html Rezension] auf Spiegel online, 8.8.2012
 
* Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen, Schöffling, Frankfurt/Main 2013, ISBN 978-3-89561-437-8.
Mae war viel zu verunsichert, um sich selbst klar zu sehen. »Vielleicht«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, wohl wissend, dass sie nicht zu unterwürfig rüberkommen sollte. »Aber manchmal bin ich mir sicher, dass das, was ich sage, wichtig ist. Und wenn ich etwas Bedeutsames beizutragen habe, fühle ich mich durchaus befugt, das auch zu tun.«
 
»Aber bemerkenswert ist, dass du gesagt hast 'Manchmal bin ich mir sicher'«, sagte Josiah und hob einen mahnenden Zeigefinger. »Das manchmal finde ich interessant. Oder besser gesagt, besorgniserregend. Ich denke nämlich, dass du dieses manchmal nicht oft genug erlebst.« |(S.218)}}
 
''Der Circle bietet Politikern, die zeigen wollen, dass sie gegenüber Lobbyisten völlig korruptionsresistent sind, an, eine Kamera zu tragen, die vom Aufstehen bis zum Schlafengehen all ihre Aktivitäten akustisch und optisch registriert, sie also {{wpde|Transparenz (Politik)|transparent}} macht. Zunächst läuft das nur sehr zögerlich an. Doch als klar wird, dass das {{wpde|Streaming Media|Livestreaming}} diese Politiker sehr populär macht und dass diese Sendungen sehr hohe Einschaltquoten haben, nimmt das Interesse von Politikern enorm zu.''
{{Zitat|Die wichtigste Entwicklung, über die Bailey persönlich alle paar Stunden zingte, war der rapide Zuwachs an gewählten Politikern, in den USA und weltweit, die sich entschieden hatten, gläsern zu werden. In den Augen der meisten war es ein unaufhaltsamer Fortschritt. Als Santos ihre neue Transparenz verkündet hatte, war in den Medien zwar darüber berichtet worden, aber der große Knall, den sich alle beim Circle erhofft hatten, war ausgeblieben. Dann jedoch, als sich mehr und mehr Leute einloggten und zuschauten und merkten, dass Santos es todernst meinte - dass sie es den Bürgern ermöglichte, zu sehen
und zu hören, was genau alles tagsüber bei ihr passierte, ungefiltert und unzensiert - , da wuchs die Viewerzahl sprunghaft an. Santos postete jeden Tag ihren Terminplan, und bereits in der zweiten Woche, als sie sich mit einer Gruppe Lobbyisten traf, die in der alaskischen Tundra Bohrungen durchführen wollten, schauten ihr Millionen zu. Sie nahm in dem Gespräch mit diesen Lobbyisten kein Blatt vor den Mund, ohne zu predigen oder sich anzubiedern. Sie war frank und frei, stellte genau die Fragen, die sie auch hinter verschlossenen Türen gestellt hätte, und sorgte somit für ein packendes, ja sogar inspirierendes Erlebnis.
 
Am Ende der dritten Woche hatten einundzwanzig weitere gewählte US-Politiker den Circle gebeten, ihnen dabei behilflich zu sein , gläsern zu werden: ein Bürgermeister in Sarasota; eine Senatorin von Hawaii und, was keine Überraschung war, beide Senatoren von Kalifornien; der gesamte Stadtrat von San Jose; der Stadtdirektor von Independence, Kansas. Und jedes Mal, wenn einer von ihnen seinen Entschluss bekannt gab, zingten die Drei Weisen darüber, und es wurde hastig eine Pressekonferenz angesetzt, auf der genau der Moment gezeigt wurde, an dem der Betreffende seinen ersten Tag transparent machte. Nach dem ersten Monat kamen Tausende Anfragen aus aller Welt, Stenton und Bailey waren erstaunt, geschmeichelt, überwältigt, wie sie sagten, wurden aber auf dem
falschen Fuß erwischt. Der Circle konnte die riesige Nachfrage nicht befriedigen. Aber sie wollten sich alle Mühe geben.
 
Die Herstellung der Kameras, die für Verbraucher noch nicht erhältlich waren, lief auf Hochtouren. Der Produktionsbetrieb in der chinesischen Provinz Guangdong ließ zusätzliche Schichten fahren und begann mit dem Bau einer zweiten Fabrik, um die Kapazität zu vervierfachen. Jedes Mal, wenn eine Kamera installiert wurde und ein neuer Politiker transparent geworden war, folgte eine weitere Ankündigung von Stenton, eine weitere Feier, und die Viewerzahl wuchs. Am Ende der fünften Woche waren 16.188 gewählte Volksvertreter, von Lincoln, Nebraska, bis Lahore, Pakistan, völlig transparent geworden, und die
Warteliste wurde länger und länger.
 
Der Druck auf alle, die sich nicht transparent gemacht hatten, war kein höflicher mehr, sondern nahm massive Formen an. Die Frage, die von Experten und Wählern gestellt wurde, war einleuchtend und laut: Wenn du nicht transparent bist, was hast du zu verbergen? Manche Bürger und Kommentatoren äußerten Bedenken mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Privatsphäre, und sie erklärten, dass Regierungsvertreter praktisch jeder Ebene schon immer gewisse Dinge im stillen Kämmerlein hatten tun müssen, um Sicherheit und Effizienz zu gewährleisten, doch die Dynamik der Entwicklung wischte derlei Argumente vom Tisch und wuchs noch weiter an. Wenn du nicht für alle sichtbar agiertest, was triebst du dann, wenn keiner zusah?
 
Und oftmals geschah etwas Wunderbares, etwas, das sich wie ausgleichende Gerechtigkeit anfühlte: Jedes Mal, wenn irgendwer wieder lauthals das angebliche Monopol des Circle anprangerte oder die unfaire Geldmacherei mit den persönlichen Daten der Circle-User oder irgendeine andere paranoide und nachweislich falsche Behauptung aufstellte, kam bald darauf ans Licht, dass es sich bei demjenigen um einen Kriminellen oder hochgradig Perversen handelte. Der eine hatte Kontakte zu einem Terrornetzwerk im Iran. Der andere war Konsument von Kinderpornos. Jedes Mal, so schien es, landeten solche Leute in den Nachrichten, wo gezeigt wurde, wie Ermittler ihre Häuser mit Computern verließen, auf denen zahllose unaussprechliche Suchanfragen durchgeführt worden waren und Unmengen illegales und obszönes Material gespeichert war. Und irgendwie war es auch einleuchtend. Wer außer einer Randgestalt würde die unbestreitbare Verbesserung der Welt verhindern wollen?
 
Nach einigen Wochen wurden die nicht transparenten Amtsträger wie Ausgestoßene behandelt.|(S.273-275}}
 
''Maes Gedanken nach ihrer nächtlichen Kajakfahrt''
{{Zitat|Maes Kopf hallte wieder vor Selbstanklagen. Sie hasste sich selbst. Wieso hatte sie das bloß getan, ihren Job riskiert? Ihre beste Freundin in eine peinliche Lage gebracht? Die Krankenversicherung ihres Vaters gefährdet? Sie war ein Schwachkopf, ja, war sie vielleicht sogar schizophren? Was hatte sie letzte Nacht bloß geritten? Wer macht so was? Ihr Verstand debattierte mit sich selbst, während sie fieberhaft arbeitete, um irgendwas Sichtbares zu tun, um zu demonstrieren, wie sehr sie sich dem Unternehmen verpflichtet fühlte.|(S.316)}}
 
''Ausschnitt aus einem Gespräch Eamon Baileys mit Mae''
 
{{Zitat|»Mae, sind Sie je froh darüber, wenn ein Freund Ihnen gegenüber ein Geheimnis hat?«
Mae dachte an die vielen kleinen Lügen, die sie Annie in letzter Zeit aufgetischt hatte. Lügen, die sie nicht bloß gesagt, sondern getippt hatte, Lügen, die permanent und unbestreitbar gemacht worden waren.
 
»Nein. Aber ich verstehe, wenn es nicht anders geht.«
 
»Das ist interessant. Können Sie sich erinnern, wann Sie mal froh darüber waren, dass ein Freund oder eine Freundin Ihnen etwas verheimlicht hat?«
Mae konnte es nicht. »Im Augenblick nicht.« Ihr war schlecht. »Okay«, sagte Bailey, »fürs Erste fallen uns keine guten Geheimnisse zwischen Freunden ein. Wie sieht es bei Familien aus? Ist ein Geheimnis in einer Familie etwas Gutes? Rein theoretisch, denken Sie schon mal, ''Weißt du, was toll wäre? Wenn ich vor meiner Familie was geheim halte?''«
 
Mae dachte an die vielen Dinge, die ihre Eltern ihr wahrscheinlich verheimlichten - die diversen Demütigungen, die ihr Vater durch seine Krankheit erleiden musste.
 
»Nein«, sagte sie.
»Keine Geheimnisse innerhalb einer Familie?«
 
»Offen gestanden«, sagte Mae, »ich weiß es nicht. Es gibt auf jeden Fall Dinge, von denen ich nicht will, dass meine Eltern sie wissen.«
»Würden denn Ihre Eltern diese Dinge wissen wollen?«
»Vielleicht.«
 
»Sie enthalten Ihren Eltern also etwas vor, was sie wissen wollen. Ist das gut?«
»Nein, Aber vielleicht besser für alle. «
 
»Besser für Sie. Besser für den Bewahrer des Geheimnisses. Irgendein dunkles Geheimnis wird den Eltern besser vorenthalten. Geht es bei diesem Geheimnis um etwas Großartiges, das Sie gemacht haben? Vielleicht würde es Ihren Eltern einfach zu viel Freude bescheren, wenn sie es wüssten?«
Mae lachte. »Nein, Bei einem Geheimnis vor den Eltern geht es eindeutig um etwas, für das man sich schämt, oder man möchte sie damit verschonen, dass man Mist gebaut hat.«| (S.322-323)}}
 
''Ausschnitt aus einem öffentlichen Interview, das Mae nach ihrem "Erwachen" (das spielt auf eine religiöse {{wpde|Erweckungsbewegung|Erweckung}} an) Eamon Bailey gibt:''
 
{{Zitat|»Geheimnisse sind Lügen. Das ist sehr einprägsam. Können Sie uns erläutern, wie Sie diesen Satz meinen, Mae?«
 
»Nun, wenn etwas geheim gehalten wird, passiert zweierlei. Erstens, es macht Straftaten möglich. Wir verhalten uns schlechter, wenn wir nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das versteht sich von selbst. Und zweitens, Geheimnisse führen zu Spekulationen. Wenn wir nicht wissen, was verheimlicht wird, raten wir, erfinden Antworten.« [...]
 
»Natürlich. Aber Sie haben gesagt, dass Sie häufig in der Bucht Kajak fahren, und Sie haben Ihre Kajakfahrten nie dokumentiert. Sie sind keinem der Circ1e-Klubs für Kajakfreunde beigetreten, und Sie haben keine Schilderungen, Fotos, Videos oder Kommentare gepostet. Machen Sie diese Kajakfahrten im Auftrag der CIA?« Mae und das Publikum lachten.
 
»Nein.«
 
»Warum dann diese heimlichen Fahrten? Sie haben niemandem davon erzählt, weder vorher noch nachher, und Sie haben sie nirgendwo erwähnt. Es existieren keinerlei Berichte über diese Ausflüge, hab ich recht?« »Sie haben recht.« Mae hörte hier und da im Publikum lautes, missbilligendes Zungenschnalzen.
 
»Was haben Sie auf Ihrem letzten Ausflug so alles gesehen, Mae? Wie ich höre, war er richtig schön.«
 
»0 ja, Eamon. Es war fast Vollmond, und das Wasser war ganz ruhig, und ich hatte das Gefühl, durch flüssiges Silber zu paddeln.«
»Klingt unglaublich.« »Das war es auch.«
»Tiere? Natur pur?«
»Eine Zeit lang ist mir ein einzelner Seehund gefolgt, und er ist immer wieder aufgetaucht, als ob er neugierig wäre oder mich antreiben wollte. Ich war vorher noch nie auf der Insel. Nur ganz wenige besuchen sie. Und als ich ankam , bin ich zu ihrem höchsten Punkt geklettert, der Ausblick von da oben war fantastisch. Ich hab die goldenen Lichter der Stadt gesehen und die schwarzen Hügel Richtung Pazifik, und ich hab sogar eine Sternschnuppe gesehen.«
»Eine Sternschnuppe! Sie Glückliche.«
»Ja, ich hab wirklich Glück gehabt.« »Aber Sie haben kein Foto gemacht.«
»Nein.« »Kein Video.« »Nein .«
»Es gibt also keinerlei Aufzeichnung davon.«
»Nein. Nichts außerhalb meines eigenen Gedächtnisses.«
Im Publikum wurde hörbar aufgestöhnt. Bailey wandte sich an die Zuhörer und schüttelte nachsichtig den Kopf.
 
»Okay«, sagte er in einem Ton , als würde er sich innerlich wappnen, »jetzt wird es persönlich. Wie ihr alle wisst, wurde mein Sohn Gunner mit Zerebralparese geboren. Obwohl er ein sehr erfülltes Leben führt und wir uns stets alle Mühe geben, seine Möglichkeiten zu verbessern, ist er an den Rollstuhl gefesselt. Er kann nicht gehen. Er kann nicht laufen. Er kann nicht kajaken. Was macht er also, wenn er so etwas erleben möchte? Na, er schaut sich Videos an. Er schaut sich Fotos an. Vieles von der Welt erfährt er durch die Erlebnisse anderer. [...]
Mae dachte an Baileys Sohn Gunner, und sie dachte an ihren eigenen Vater.
 
»Glauben Sie, diese Menschen haben ein Recht darauf, die Dinge zu sehen, die Sie gesehen haben?« »Ja.« [...]
 
»Es war einfach egoistisch, Eamon. Es war egoistisch und nichts anderes. So wie, wenn ein Kind sein Lieblingsspielzeug nicht mit anderen Kindern teilen will. Mir ist klar, dass Heimlichtuerei Teil eines, na ja, abnormen Verhaltenssystems ist. [...] 
 
Bailey sah sie an wie ein stolzer Vater. Als der Beifall abebbte, sprach Bailey mit leiser Stimme, als wollte er sie nur ungern stören.
»Sie haben in unserem ersten Gespräch eine Formulierung benutzt, und ich möchte Sie bitten, sie hier zu wiederholen.«
»Naja, es klingt ein bisschen albern, aber ich habe gesagt Teilen ist Heilen.«
Das Publikum raunte anerkennend. Bailey schmunzelte warmherzig.
»Ich finde, das klingt überhaupt nicht albern. Gerade bei den vorhin genannten Beispielen passt diese Formulierung doch ausgezeichnet, meinen Sie nicht auch, Mae? Besser könnte man es gar nicht ausdrücken.« [...]
 
»Was geschieht also, wenn ich anderen etwas vorenthalte, was ich weiß? Bestehle ich dann nicht meine Mitmenschen?«
 
»In der Tat«, sagte Bailey mit einem ernsten Nicken. Mae blickte ins Publikum und sah, dass die gesamte erste Reihe, die einzigen erkennbaren Gesichter, ebenfalls nickte.
 
»Und bei ihrer Sprachgewandtheit möchte ich Sie bitten, uns ihre dritte und letzte Erkenntnis mitzuteilen. Was haben Sie gesagt?«
 
»Also, ich habe gesagt, alles Private ist Diebstahl.«
 
Bailey wandte sich dem Publikum zu. »Ist das nicht eine interessante Formulierung, Leute? Alles Private ist Diebstahl.« Die Worte erschienen jetzt auf dem Bildschirm hinter ihm, in großen weißen Lettern: [...]
 
::::::::::::GEHEIMNISSE SIND LÜGEN
::::::::::::TEILEN IST HEILEN
::::::::::::ALLES PRIVATE IST DIEBSTAHL
 
Maes Kehle war wie zugeschnürt, trocken. Sie wusste, sie würde kein Wort herausbekommen, deshalb hoffte sie, dass Bailey sie nicht auffordern würde, etwas zu sagen. Als hätte er gespürt, wie ihr zumute war, dass sie überwältigt war, zwinkerte er ihr zu und wandte sich ans Publikum.
 
»Bedanken wir uns doch bitte bei Mae für ihre Offenheit, ihre Intelligenz und ihre tiefe Menschlichkeit, ja?« [...] Irgendwann inmitten des tosenden Beifalls gelang es Bailey, den Clou des Ganzen zu verkünden - dass Mae, um mit anderen all das zu teilen, was sie sah und somit der Welt bieten konnte, auf der Stelle transparent werden würde."|(S.338-346)}}
 
=== Zweites Buch ===
 
{{Zitat|Jetzt, da Washington zu 90 Prozent transparent war, verkümmerten die verbliebenen zehn Prozent der Volksvertreter unter dem Argwohn ihrer Kollegen und Wähler, der wie eine sengende Sonne mit der Frage auf sie niederbrannte: Was habt ihr zu verbergen? |(S.353)}}
 
{{Zitat|Jeden Tag war sie ohne Dinge ausgekommen, die sie nicht wollen wollte. Dinge, die sie nicht brauchte. Sie verzichtete inzwischen auf Limo, Energydrinks, Fertignahrung. Auf Cirde-Festen hielt sie sich an einem einzigen Drink fest und versuchte jedes Mal, das Glas nicht ganz auszutrinken. Alles Unmäßige provozierte postwendend eine aufgeregte Welle von besorgten Zings, deshalb hielt sie sich in den Grenzen der Mäßigung. Und sie fand es befreiend. Sie war erlöst von schlechten Gewohnheiten. Sie war erlöst davon, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte, Dinge zu essen und zu trinken, die ihr nicht gut taten. Seit sie transparent geworden war, war sie nobler geworden. Menschen bezeichneten sie als Vorbild. |(S.374)}}
 
{{Zitat|Sie blickte nach unten auf ihr Armband und sah einige Zings, die sich erkundigten, ob es ihr gut ging. Sie wusste, dass sie antworten musste, sonst würden ihre Viewer denken, sie hätte den Verstand verloren. Das war eine der vielen kleinen Anpassungen, an die sie sich gewöhnen musste - jetzt waren da draußen Tausende, die sahen, was sie sah, Zugang zu ihren Gesundheitsdaten hatten, ihre Stimme hörten, ihr Gesicht sahen, sie war permanent über irgendeine der SeeChange-Kameras auf dem Campus sichtbar, zusätzlich zu der an ihrem Monitor, und jede kleinste Abweichung von ihrer üblichen guten Laune fiel den Leuten auf. |(S.376)}}
 
{{Zitat|Um 22.11 Uhr verabschiedete sie sich von ihren Viewern - zu dem Zeitpunkt waren es nur noch 98.027, und ein paar Tausend erwiderten ihre Gute-Nacht-Wünsche -, zog sich die Kamerakette über den Kopf und legte sie ins Etui. Sie hatte die Erlaubnis, die SeeChangeKameras in ihrem Zimmer abzuschalten, tat es aber nur selten. Sie wusste, dass das Bildmaterial, das sie selbst beispielsweise über Bewegungen während des Schlafes sammelte, eines Tages nützlich sein könnte, also ließ sie die Kameras an.|(S.378)}}
 
''Kalden zu Mae:''
{{Zitat|Du bist das Gesicht. Das gütige, freundliche Gesicht von allem. Und die Schließung des Circle - genau das haben du und dein Freund Francis erst möglich gemacht. Deine Idee mit dem Pflicht-Circle-Account und sein Chip. TruYouth? Das ist krank, Mae. Siehst du das nicht? Alle Kinder kriegen einen Chip eingepflanzt, für ihre Sicherheit, wenn sie Babys sind. Und ja, der Chip rettet Leben. Aber was dann? Denkst du, sie lassen ihn plötzlich entfernen, wenn sie achtzehn sind? Nein. Im Interesse von Erziehung und Sicherheit wird alles, was sie gemacht haben, aufgezeichnet, getrackt, dokumentiert, analysiert - für immer und ewig. Und dann, wenn sie alt genug sind, um zu wählen, zu partizipieren, ist ihre Mitgliedschaft obligatorisch. Und da schließt sich der Circle. Alle werden getrackt, von der Wiege bis zur Bahre, ohne die Möglichkeit, zu entkommen.« |(S.545-546)}}
 
=== Drittes Buch ===
{{Zitat|"Was, wenn Kalden sie nicht um Hilfe gebeten hätte? Was, wenn er ihr nicht vertraut hätte? Was, wenn er die Sache selbst in die Hand genommen oder, schlimmer noch, sein Geheimnis jemand anderem anvertraut hätte? Jemandem, der nicht so integer war wie sie?" |(S.555)}}
 
 
== Unterrichtsmaterial ==
* [http://www.zeit.de/2015/21/larry-page-google-gruender Einer für alles] ZEIT, 21.5.15, S.21ff
:"Larry Page will mit den Google-Milliarden große Menschheitsprobleme lösen. Jetzt redet er über seine Pläne – und sein Erweckungserlebnis mit zwölf."
* {{wpde|Larry Page}}
* {{wpde|Mark Zuckerberg}}
* {{wpde|The Social Network}} (Film über die Entstehung von Facebook)
* {{wpde|Bill Gates}}
* {{wpde|Eric Schmidt}}
* [http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/netzwirtschaft/im-portraet-google-chef-eric-schmidt-der-webmaster-1356818.html Google-Chef Eric Schmidt: Der Webmaster] FAZ, 30.7.2016
* [http://www.informationweek.com/bill-gates-steve-jobs-michael-dell-top-list-of-it-influencers/d/d-id/1061241? Bill Gates, Steve Jobs, Michael Dell Top List of IT Influencers] InformationWeek, 7.11,2007
 
== Rezensionen u.ä. ==
* [https://www.perlentaucher.de/buch/dave-eggers/der-circle.html Dave Eggers: Der Circle] perlentaucher.de (vier Rezensionen in Kurzfassung)
* [http://www.zeit.de/2014/33/ueberwachung-dave-eggers-circle/komplettansicht ÜBERWACHUNG: Diese Welt ist neu, ist sie auch schön?] ZEIT, 7.8.2014
* [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-dritte-kreis-der-hoelle-dave-eggers-der-circle-im-vergleich-mit-huxley-und-orwell-13089429.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 Dave Eggers’ „Der Circle“ - Der dritte Kreis der Hölle] FAZ, 9.8.2014
* [http://www.spiegel.de/netzwelt/web/the-circle-von-dave-eggers-das-google-hasser-buch-a-929127.html "The Circle" von Dave Eggers: Das Google-Hasser-Buch] Spiegel online, 29.10.2013
* [http://www.spiegel.de/kultur/literatur/dave-eggers-roman-dystopie-the-circle-a-982663.html Diskussion um US-Bestseller "The Circle": Die Tyrannei des Internets] Spiegel online, 4.8.2014
* [http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-ueber-die-daemonisierung-der-netzkonzerne-a-988308.html Die Mensch-Maschine: Dämonisierte Digitalkonzerne] Spiegel online, 27.8.2014 (interessant zum Problemhorizont, zum Roman selbst wenig erhellend)


== Linkliste ==
== Linkliste ==
* [http://herrlarbig.de/2009/05/22/wenn-praevention-freiheit-zerstoert-juli-zehs-corpus-delicti-ein-prozess/ Wenn Prävention Freiheit zerstört: Juli Zehs „Corpus Delicti. Ein Prozess“], Herr Larbig, 22.5.2009
* {{wpde|Der Circle}}
* {{wpd|Corpus Delicti (Roman)}}
* {{wpen|The Circle (Eggers novel)|The Circle}}
* {{wpde|Schöne neue Welt}}
* {{wpde|1984}}


==Siehe auch==
== Siehe auch ==
* [[Utopie]]
* [[Utopie]]
* [[Fahrenheit 451]] (auf Englisch)
* [[Juli Zeh:Corpus Delicti]]




[[Kategorie:Deutsch]][[Kategorie:Sekundarstufe 2]]
[[Kategorie:Sekundarstufe 2]]
[[Kategorie:Englisch]]

Version vom 25. März 2018, 10:59 Uhr

Der Circle ist ein Roman von Dave Eggers. Er ist 2013 auf Englisch erschienen, 2014 auf Deutsch herausgekommen und schildert Zustände, wie sie sich bei einer Verlängerung heutiger Entwicklung von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken in der Zukunft ergeben könnten.

Ähnlichkeiten des Handlungsaufbaus ergeben sich mit Schöne neue Welt, "1984" und Juli Zeh:Corpus Delicti.

Worum geht's

Die Heldin heißt Mae. Der Inhalt ist in den Worten der Wikipedia der folgende: "Mit Unterstützung ihrer Freundin Annie, die bereits einen einflussreichen Posten in der Firma hat, bekommt die 24-jährige Mae Holland einen Job bei dem weltweit dominierenden Internet-Unternehmen Circle. Das kalifornische Unternehmen hat die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter übernommen und will die gesamte Bevölkerung mit jeweils einer einzigen Internetidentität ausstatten, was zur umfassenden sozialen Kontrolle führen soll. Mae wird schnell zur Vorzeigemitarbeiterin, antizipiert die Pläne des Unternehmens und lebt die vollständige Transparenz vor. Sie wird zur Ideengeberin für die Unternehmensspitze, hat aber auch gegen Widerstände aus ihrer Familie, von ihrem Ex-Freund und von einem mysteriösen Fremden zu kämpfen." (Der CircleWikipedia-logo.png)


Fragen zur Beurteilung
  • Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen der Organisation "Circle" und Google, Facebook, Twitter, anderen sozialen Netzwerken sowie Transparency InternationalWikipedia-logo.png?
  • Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen der Situation Maes und der von prominenten Politikern und Stars?
  • Wie sind die drei Mottos des Circle, die Bailey und Mae entwickeln, zu beurteilen?
  • Inwiefern passt Mae gut zum Circle, inwiefern weniger?
  • Wie wird Mae von ihren Erfahrungen im Circle beeinflusst?
Wie verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt, wie das zu sich selbst?
Weshalb verschlechtert sich ihr Verhältnis zu Annie, weshalb das zu Kalden?
  • Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede bestehen zwischen dem Roman "Der Circle" und den Romanen "1984", Schöne neue WeltWikipedia-logo.png, Juli Zeh: Corpus Delicti sowie dem Film Die Truman ShowWikipedia-logo.png?
  • Ist die Kritik, die "Der Circle" an großen Internetkonzernen übt, angemessen?
  • Bei Eggers scheint die Finanzwelt ausgeklammert aus einer Netzwelt, die massenpsychologisch aber nicht renditeorientiert orientiert ist. Gibt es neben 'Circle' - Interessen keine Finanzmarkt - Interessen?
  • Wie ist der Roman von seiner literarischen Qualität her einzuordnen?

Textausschnitte

Die hier angeführten Zitate erfassen bei weitem nicht alle zentralen Stellen. Das geschieht einerseits um das Lesevergnügen, andererseits, um die Gelegenheit zur Eigeninitiative zum Herausfinden solcher Stellen nicht zu zerstören.

Erstes Buch

Mae und Annie

Zitat
Annie brachte sie ins Krankenhaus und wartete, während Maes Kiefer verdrahtet wurde, und sie blieb die ganze Nacht bei Mae am Bett, schlief auf einem Holzstuhl, und zu Hause dann versorgte sie Mae tagelang, während die nur durch einen Strohhalm essen konnte. Ein so hohes Maß an resolutem Engagement und Tüchtigkeit hatte Mae noch bei niemandem in ihrem Alter oder ungefähr in ihrem Alter erlebt, und von da an war sie auf eine Art loyal, wie sie es sich selbst nie zugetraut hätte.
S.8-9)

Mae vergleicht den Rest von Amerika mit dem Circle

Zitat
Ihre Heimatstadt und der Rest von Kalifornien, der Rest von Amerika kamen ihr vor wie das heillose Chaos in einem Entwicklungsland. Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen. Die besten Leute hatten die besten Systeme gemacht, und die besten Systeme hatten Geldmittel eingebracht, unbegrenzte Geldmittel, die das hier möglich machten: den allerbesten Arbeitsplatz. Und es war ganz logisch, dass dem so war, dachte Mae. Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?
(S.41)

Mae wird in ihre Arbeit eingeführt

Zitat
Das hier soll ein Ort der Arbeit sein, klar, aber es sollte auch ein Ort der Menschlichkeit sein. Und das bedeutet die Förderung von Gemeinschaft. Besser gesagt, es muss eine Gemeinschaft, eine Community sein. Das ist einer unserer Slogans, wie du wahrscheinlich weißt: Community First. Und du hast die Schilder gesehen, auf denen steht Hier arbeiten Menschen [...] Der Satz gefiel ihr: Hier arbeiten keine Roboter.
(S.59-62)

Mae trifft auf Kalden

Zitat
Mae hatte die Toilette fast erreicht, als sie einen Mann sah, der in einer hautengen grünen Jeans und einem knappsitzenden langärmeligen T-Shirt auf dem Flur unter einem hohen schmalen Fenster stand und auf sein Handy starrte. In blauweißes Licht getaucht, schien er auf Anweisungen von seinem Display zu warten. Mae betrat die Toilette.

Als sie fertig war und wieder herauskam, stand der Mann an derselben Stelle, bloß dass er jetzt zum Fenster hinausschaute. »Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen«, sagte Mae. »Nee. Muss bloß über was nachdenken, ehe ich nach oben gehe. Arbeitest du hier drübenr« »]a. Ich bin neu. In der CE.« »CE?« »Customer Experience.« »Ach so, ja. Wir haben früher einfach Customer Service gesagt.« »Dann bist du wohl nicht neu?« »Ich? Nein, nein. Ich bin schon eine ganze Weile dabei. Aber weniger in diesem Gebäude.« Er lächelte und blickte aus dem Fenster, und da er das Gesicht abgewandt hatte, betrachtete Mae ihn genauer. Er hatte dunkle Augen, ein ovales Gesicht und graues, fast weißes Haar, aber er konnte nicht älter als dreißig sein. Er war dünn, sehnig, und die hautengen Klamotten, die er trug, verliehen seiner Silhouette den Eindruck flinker, dick-dünner Kalligrafie-Pinselstriche.

Er wandte sich ihr wieder zu, blinzelte und lachte leise über sich und sein schlechtes Benehmen. »Entschuldige. Ich bin Kalden.« »Kalden?« »Das ist tibetische, sagte er. »Es bedeutet irgendwas mit golden. Meine Eltern wollten immer mal nach Tibet, sind aber nie weiter als Hongkong gekommen. Und wie heißt du?« 

»Mae«,sagte sie, und sie schüttelten sich die Hände. Sein Handschlag war fest, aber flüchtig. Man hatte ihm beigebracht, wie man Hände schüttelte, vermutete Mae, doch er hatte nie einen Sinn darin gesehen.

»Dann hast du dich also nicht verlaufen«, sagte Mae, der klar wurde, dass sie längst wieder an ihrem Schreibtisch sein müsste; sie hatte sich heute schon einmal verspätet. Kalden spürte das. »Oh. Du musst los. Darf ich dich begleiten? Nur um zu sehen, wo du arbeitest?« »Ähm«, sagte Mae, jetzt sehr verunsichert. »Klar.« Wenn sie es nicht besser gewusst hätte und nicht den Ausweis gesehen hätte, den er an einer Kordel um den Hals hängen hatte, hätte sie diesen Kalden mit seiner deutlichen, aber vagen Neugier für jemanden gehalten, der von der Straße aus Versehen hereingeschneit war oder gar für einen Industriespion. Aber was wusste sie schon? Sie war erst eine Woche beim Circle. Das hier könnte irgendein Test sein. Oder bloß ein exzentrischer Kollege. Mae führte ihn zu ihrem Schreibtisch.

»Der ist sehr aufgeräumt«, sagte er.

»Ich weiß. Ich hab ja auch gerade erst angefangen.«

»Und ich weiß, manche der Drei Weisen mögen es, wenn die Circle-Schreibtische sehr ordentlich sind. Hast du die hier schon mal gesehen?« »Wen? Die Drei Weisen?« Mae schnaubte. »Hier nicht. Jedenfalls noch nicht.« »]a, kann ich mir denken«, sagte Kalden und ging in die Hocke, sein Kopf auf Höhe von Maes Schulter. »Kann ich mal sehen, was du so machst?« »Was ich arbeite?« »Ja. Darf ich zuschauen? Ich meine, natürlich nur, wenn es dir nicht unangenehm ist.«

Mae stutzte. Hier im Circle hielt sich ihrer Erfahrung nach alles und jeder an ein logisches Modell, einen Rhythmus, doch Kalden war die Anomalie. Sein Rhythmus war anders, atonal und seltsam, aber nicht unangenehm. Er hatte ein ausgesprochen offenes Gesicht, feuchte, sanftmütige, bescheidene Augen, und er sprach so leise, dass jede Art von Bedrohung ausgeschlossen schien.

»Klar, Meinetwegen«, sagte sie. »Es ist aber nicht besonders aufregend.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. «

Und dann sah er zu, wie Mae Anfragen beantwortete. Wenn sie sich ihm nach jedem scheinbar banalen Teil ihres Jobs zuwandte, tanzte der Bildschirm hell in seinen Augen, und sein Gesicht wirkte verzückt - als hätte er noch nie in seinem Leben etwas Interessanteres gesehen. In anderen Momenten wirkte er dagegen entrückt, als würde er etwas sehen, das sie nicht sehen konnte. Sein Blick war dann auf den Bildschirm gerichtet, doch seine Augen sahen irgendetwas tief im Inneren. Sie machte weiter, und er stellte weiter gelegentliche Fragen.

»Wer war denn das?« - »Wie oft passiert das?« »Warum hast du so geantwortet?«

Er war ihr nahe, viel zu nahe für einen normalen Menschen mit den üblichen Vorstellungen von Diskretionsabstand, aber es war überdeutlich, dass er nicht so ein Mensch war - ein normaler Mensch. Während er den Bildschirm beobachtete und manchmal Maes Finger auf der Tastatur, kam sein Kinn ihrer Schulter noch näher, sein Atem leicht, aber hörbar, sein Geruch, ein schlichter nach Seife und Bananenshampoo, erreichte sie mit dem Windhauch, wenn er kurz ausatmete. Das ganze Erlebnis war so eigenartig, dass Mae alle paar Sekunden nervös lachte, weil sie nicht wusste, was sie sonst machen sollte. Und dann war es vorbei. Er räusperte sich und stand auf.

»So, ich muss dann mal wieder«, sagte er. »Ich verschwinde einfach. Will dich hier nicht aus dem Takt bringen. Wir sehen uns bestimmt mal auf dem Campus.«

Und weg war er.
(S.108-112)

Mercers Kritik an der neuen Art von Sozialkontakt

Zitat
Hör mal, vor zwanzig Jahren war es alles andere als cool, eine Taschenrechneruhr zu haben, richtig? Und wer den ganzen Tag lang zu Hause hockte und mit seiner Taschenrechneruhr spielte, gehörte eindeutig zu denen, die sozial nicht gut klar kamen. Und Beurteilungen wie Gefällt mir und Gefällt mir nicht und Smile und Frown waren was für Pubertierende. Irgendwer schrieb einen Zettel mit der Frage: 'Magst du Einhörner und Sticker?', und du antwortetest: 'Ja, ich mag Einhörner und Sticker! Smile' So was eben. Aber jetzt machen das nicht mehr nur Teenager, sondern alle, und es kommt mir

manchmal so vor, als wäre ich in eine Zone geraten, in der alles seitenverkehrt ist, eine Spiegelwelt, wo der dämlichste Mist der Welt alles beherrscht. [...]

Ich bin durchaus sozial aktiv. Für meinen Geschmack reicht's, Aber die Tools, die ihr schafft, erzeugen unnatürlich extreme soziale Bedürfnisse. Kein Mensch braucht diese Menge an Kontakt, die ihr ermöglicht. Das verbessert nichts. Es ist nicht gesund. Es ist wie Junkfood. Weißt du, wie sie das Zeug entwickeln? Die ermitteln wissenschaftlich präzise, wie viel Salz und Fett reingehört, damit du schön weiterisst. Du hast keinen Hunger, du brauchst kein

Junkfood, es gibt dir nichts, aber du isst weiter diese leeren Kalorien. Und genau das fördert ihr. Genau das Gleiche. Endlose leere Kalorien, aber eben die digital-soziale Entsprechung. Und ihr stimmt es genau ab, damit es in gleicher Weise süchtig macht.« 
(S.155/156)
Dem Circle wird eine Monopolstellung vorgeworfen
Zitat
Eine Frau in einem blaubeerfarbenen Kostüm stand hinter einem mit Mikrofonen gespickten Rednerpult, umringt von Helfern und zwei amerikanischen Flaggen. Unter ihr der Nachrichtenticker: SENATORIN WILLIAMSON WILL DEN CIRCLE AUFLÖSEN. Am Anfang war es zu laut in der Lobby, um auch nur ein Wort zu verstehen, doch als einige »Pstl« zischten und jemand die Lautstärke aufdrehte, wurde die Stimme der Senatorin hörbar. Sie war dabei, eine schriftliche Stellungnahme zu verlesen.

»Wir sind heute hier, um die Kartellaufsicht des Senats aufzufordern, im Rahmen einer Untersuchung zu klären, ob es sich beim Circle um ein Monopolunternehmen handelt oder nicht. Wir sind überzeugt, dass das ]ustizministerium den Circle als das sehen wird, was er ist, nämlich ein Monopolist im wahrsten Sinne des Wortes, und dass es Maßnahmen ergreifen wird, um das Unternehmen aufzulösen, so wie das bereits mit Standard Oil, At & T und jedem anderen marktbeherrschenden Unternehmen in unserer Geschichte geschehen ist. Die Vorherrschaft des Circle unterdrückt jede Konkurrenz und gefährdet unsere freie Marktwirtschaft.«

Nach ihrer Erklärung widmete sich der Bildschirm wieder seinem üblichen Zweck, die Gedanken der Circle-Beschäftigten zu feiern, und in dem herrschenden Gedränge wurden viele Gedanken geäußert. Die übereinstimmende Meinung lautete, dass diese Senatorin dafür bekannt war, mitunter Positionen abseits vom Mainstream zu vertreten - sie war gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan gewesen -, und dass sie daher mit ihrem Anti-Monopolkreuzzug wohl kaum Erfolg haben würde.
(S.200/201)

Der Circle als Gemeinschaft und die Erwartungen, die sich daran knüpfen

Zitat
Wir sehen dieses Unternehmen als Gemeinschaft, und jede Person, die hier arbeitet, ist Teil der Gemeinschaft. Und damit das alles funktioniert, ist ein gewisses Maß an Partizipation erforderlich. Das ist so, als wären wir eine Kindergartengruppe, und ein Mädchen gibt eine Geburtstagsparty, und nur die Hälfte kommt, was glaubst du, wie sich das Geburtstagskind fühlt?«

»Nicht gut. Das weiß ich. Aber ich war bei dem Zirkusevent, und das war toll. Echt toll!«

»Es war wirklich toll, nicht? Und es war toll, dich da zu sehen. Aber wir haben keinerlei Beleg darüber, dass du da warst. Keine Fotos, keine Zings , keine Kommentare, Mitteilungen, Bumps. Wieso nicht?« »Ich weiß nicht . Ich schätze, ich war einfach zu gebannt von der-«

Dan seufzte laut. »Du weißt aber doch, dass wir gern was von Leuten hören, oder? Dass uns die Meinungen der Circler wichtig sind?«  »Natürlich.«

»Und dass der Circle in hohem Maße auf dem Input und der Partizipation von Leuten wie dir basiert?«

»Das weiß ich.«
(S.206/207)

Mae wird gefragt, ob es ihr nicht an Gemeinschaftsgeist und Selbstvertrauen mangelt, wenn sie den Circlern nicht davon berichtet, wie es ihren Eltern geht und dass sie alle paar Monate Kajak fährt. (S.210-219)

Zitat
Und wir sehen, dass so ein Verhalten manchmal von einem geringen Selbstwertgefühl herrührt - von einer Haltung, die besagt: '-Och, was ich zu sagen habe, ist nicht so wichtig.' Meinst du, das gibt ungefähr deine Haltung wieder?«

Mae war viel zu verunsichert, um sich selbst klar zu sehen. »Vielleicht«, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, wohl wissend, dass sie nicht zu unterwürfig rüberkommen sollte. »Aber manchmal bin ich mir sicher, dass das, was ich sage, wichtig ist. Und wenn ich etwas Bedeutsames beizutragen habe, fühle ich mich durchaus befugt, das auch zu tun.«

»Aber bemerkenswert ist, dass du gesagt hast 'Manchmal bin ich mir sicher'«, sagte Josiah und hob einen mahnenden Zeigefinger. »Das manchmal finde ich interessant. Oder besser gesagt, besorgniserregend. Ich denke nämlich, dass du dieses manchmal nicht oft genug erlebst.« 
(S.218)

Der Circle bietet Politikern, die zeigen wollen, dass sie gegenüber Lobbyisten völlig korruptionsresistent sind, an, eine Kamera zu tragen, die vom Aufstehen bis zum Schlafengehen all ihre Aktivitäten akustisch und optisch registriert, sie also transparentWikipedia-logo.png macht. Zunächst läuft das nur sehr zögerlich an. Doch als klar wird, dass das LivestreamingWikipedia-logo.png diese Politiker sehr populär macht und dass diese Sendungen sehr hohe Einschaltquoten haben, nimmt das Interesse von Politikern enorm zu.

Zitat
Die wichtigste Entwicklung, über die Bailey persönlich alle paar Stunden zingte, war der rapide Zuwachs an gewählten Politikern, in den USA und weltweit, die sich entschieden hatten, gläsern zu werden. In den Augen der meisten war es ein unaufhaltsamer Fortschritt. Als Santos ihre neue Transparenz verkündet hatte, war in den Medien zwar darüber berichtet worden, aber der große Knall, den sich alle beim Circle erhofft hatten, war ausgeblieben. Dann jedoch, als sich mehr und mehr Leute einloggten und zuschauten und merkten, dass Santos es todernst meinte - dass sie es den Bürgern ermöglichte, zu sehen

und zu hören, was genau alles tagsüber bei ihr passierte, ungefiltert und unzensiert - , da wuchs die Viewerzahl sprunghaft an. Santos postete jeden Tag ihren Terminplan, und bereits in der zweiten Woche, als sie sich mit einer Gruppe Lobbyisten traf, die in der alaskischen Tundra Bohrungen durchführen wollten, schauten ihr Millionen zu. Sie nahm in dem Gespräch mit diesen Lobbyisten kein Blatt vor den Mund, ohne zu predigen oder sich anzubiedern. Sie war frank und frei, stellte genau die Fragen, die sie auch hinter verschlossenen Türen gestellt hätte, und sorgte somit für ein packendes, ja sogar inspirierendes Erlebnis.

Am Ende der dritten Woche hatten einundzwanzig weitere gewählte US-Politiker den Circle gebeten, ihnen dabei behilflich zu sein , gläsern zu werden: ein Bürgermeister in Sarasota; eine Senatorin von Hawaii und, was keine Überraschung war, beide Senatoren von Kalifornien; der gesamte Stadtrat von San Jose; der Stadtdirektor von Independence, Kansas. Und jedes Mal, wenn einer von ihnen seinen Entschluss bekannt gab, zingten die Drei Weisen darüber, und es wurde hastig eine Pressekonferenz angesetzt, auf der genau der Moment gezeigt wurde, an dem der Betreffende seinen ersten Tag transparent machte. Nach dem ersten Monat kamen Tausende Anfragen aus aller Welt, Stenton und Bailey waren erstaunt, geschmeichelt, überwältigt, wie sie sagten, wurden aber auf dem falschen Fuß erwischt. Der Circle konnte die riesige Nachfrage nicht befriedigen. Aber sie wollten sich alle Mühe geben.

Die Herstellung der Kameras, die für Verbraucher noch nicht erhältlich waren, lief auf Hochtouren. Der Produktionsbetrieb in der chinesischen Provinz Guangdong ließ zusätzliche Schichten fahren und begann mit dem Bau einer zweiten Fabrik, um die Kapazität zu vervierfachen. Jedes Mal, wenn eine Kamera installiert wurde und ein neuer Politiker transparent geworden war, folgte eine weitere Ankündigung von Stenton, eine weitere Feier, und die Viewerzahl wuchs. Am Ende der fünften Woche waren 16.188 gewählte Volksvertreter, von Lincoln, Nebraska, bis Lahore, Pakistan, völlig transparent geworden, und die Warteliste wurde länger und länger.

Der Druck auf alle, die sich nicht transparent gemacht hatten, war kein höflicher mehr, sondern nahm massive Formen an. Die Frage, die von Experten und Wählern gestellt wurde, war einleuchtend und laut: Wenn du nicht transparent bist, was hast du zu verbergen? Manche Bürger und Kommentatoren äußerten Bedenken mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Privatsphäre, und sie erklärten, dass Regierungsvertreter praktisch jeder Ebene schon immer gewisse Dinge im stillen Kämmerlein hatten tun müssen, um Sicherheit und Effizienz zu gewährleisten, doch die Dynamik der Entwicklung wischte derlei Argumente vom Tisch und wuchs noch weiter an. Wenn du nicht für alle sichtbar agiertest, was triebst du dann, wenn keiner zusah?

Und oftmals geschah etwas Wunderbares, etwas, das sich wie ausgleichende Gerechtigkeit anfühlte: Jedes Mal, wenn irgendwer wieder lauthals das angebliche Monopol des Circle anprangerte oder die unfaire Geldmacherei mit den persönlichen Daten der Circle-User oder irgendeine andere paranoide und nachweislich falsche Behauptung aufstellte, kam bald darauf ans Licht, dass es sich bei demjenigen um einen Kriminellen oder hochgradig Perversen handelte. Der eine hatte Kontakte zu einem Terrornetzwerk im Iran. Der andere war Konsument von Kinderpornos. Jedes Mal, so schien es, landeten solche Leute in den Nachrichten, wo gezeigt wurde, wie Ermittler ihre Häuser mit Computern verließen, auf denen zahllose unaussprechliche Suchanfragen durchgeführt worden waren und Unmengen illegales und obszönes Material gespeichert war. Und irgendwie war es auch einleuchtend. Wer außer einer Randgestalt würde die unbestreitbare Verbesserung der Welt verhindern wollen?

Nach einigen Wochen wurden die nicht transparenten Amtsträger wie Ausgestoßene behandelt.
(S.273-275

Maes Gedanken nach ihrer nächtlichen Kajakfahrt

Zitat
Maes Kopf hallte wieder vor Selbstanklagen. Sie hasste sich selbst. Wieso hatte sie das bloß getan, ihren Job riskiert? Ihre beste Freundin in eine peinliche Lage gebracht? Die Krankenversicherung ihres Vaters gefährdet? Sie war ein Schwachkopf, ja, war sie vielleicht sogar schizophren? Was hatte sie letzte Nacht bloß geritten? Wer macht so was? Ihr Verstand debattierte mit sich selbst, während sie fieberhaft arbeitete, um irgendwas Sichtbares zu tun, um zu demonstrieren, wie sehr sie sich dem Unternehmen verpflichtet fühlte.
(S.316)

Ausschnitt aus einem Gespräch Eamon Baileys mit Mae

Zitat
»Mae, sind Sie je froh darüber, wenn ein Freund Ihnen gegenüber ein Geheimnis hat?«

Mae dachte an die vielen kleinen Lügen, die sie Annie in letzter Zeit aufgetischt hatte. Lügen, die sie nicht bloß gesagt, sondern getippt hatte, Lügen, die permanent und unbestreitbar gemacht worden waren.

»Nein. Aber ich verstehe, wenn es nicht anders geht.«

»Das ist interessant. Können Sie sich erinnern, wann Sie mal froh darüber waren, dass ein Freund oder eine Freundin Ihnen etwas verheimlicht hat?« Mae konnte es nicht. »Im Augenblick nicht.« Ihr war schlecht. »Okay«, sagte Bailey, »fürs Erste fallen uns keine guten Geheimnisse zwischen Freunden ein. Wie sieht es bei Familien aus? Ist ein Geheimnis in einer Familie etwas Gutes? Rein theoretisch, denken Sie schon mal, Weißt du, was toll wäre? Wenn ich vor meiner Familie was geheim halte?«

Mae dachte an die vielen Dinge, die ihre Eltern ihr wahrscheinlich verheimlichten - die diversen Demütigungen, die ihr Vater durch seine Krankheit erleiden musste.

»Nein«, sagte sie. »Keine Geheimnisse innerhalb einer Familie?«

»Offen gestanden«, sagte Mae, »ich weiß es nicht. Es gibt auf jeden Fall Dinge, von denen ich nicht will, dass meine Eltern sie wissen.« »Würden denn Ihre Eltern diese Dinge wissen wollen?« »Vielleicht.«

»Sie enthalten Ihren Eltern also etwas vor, was sie wissen wollen. Ist das gut?« »Nein, Aber vielleicht besser für alle. «

»Besser für Sie. Besser für den Bewahrer des Geheimnisses. Irgendein dunkles Geheimnis wird den Eltern besser vorenthalten. Geht es bei diesem Geheimnis um etwas Großartiges, das Sie gemacht haben? Vielleicht würde es Ihren Eltern einfach zu viel Freude bescheren, wenn sie es wüssten?«

Mae lachte. »Nein, Bei einem Geheimnis vor den Eltern geht es eindeutig um etwas, für das man sich schämt, oder man möchte sie damit verschonen, dass man Mist gebaut hat.«
(S.322-323)

Ausschnitt aus einem öffentlichen Interview, das Mae nach ihrem "Erwachen" (das spielt auf eine religiöse ErweckungWikipedia-logo.png an) Eamon Bailey gibt:

Zitat
»Geheimnisse sind Lügen. Das ist sehr einprägsam. Können Sie uns erläutern, wie Sie diesen Satz meinen, Mae?«

»Nun, wenn etwas geheim gehalten wird, passiert zweierlei. Erstens, es macht Straftaten möglich. Wir verhalten uns schlechter, wenn wir nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das versteht sich von selbst. Und zweitens, Geheimnisse führen zu Spekulationen. Wenn wir nicht wissen, was verheimlicht wird, raten wir, erfinden Antworten.« [...]

»Natürlich. Aber Sie haben gesagt, dass Sie häufig in der Bucht Kajak fahren, und Sie haben Ihre Kajakfahrten nie dokumentiert. Sie sind keinem der Circ1e-Klubs für Kajakfreunde beigetreten, und Sie haben keine Schilderungen, Fotos, Videos oder Kommentare gepostet. Machen Sie diese Kajakfahrten im Auftrag der CIA?« Mae und das Publikum lachten.

»Nein.«

»Warum dann diese heimlichen Fahrten? Sie haben niemandem davon erzählt, weder vorher noch nachher, und Sie haben sie nirgendwo erwähnt. Es existieren keinerlei Berichte über diese Ausflüge, hab ich recht?« »Sie haben recht.« Mae hörte hier und da im Publikum lautes, missbilligendes Zungenschnalzen.

»Was haben Sie auf Ihrem letzten Ausflug so alles gesehen, Mae? Wie ich höre, war er richtig schön.« 

»0 ja, Eamon. Es war fast Vollmond, und das Wasser war ganz ruhig, und ich hatte das Gefühl, durch flüssiges Silber zu paddeln.«  »Klingt unglaublich.« »Das war es auch.«  »Tiere? Natur pur?«  »Eine Zeit lang ist mir ein einzelner Seehund gefolgt, und er ist immer wieder aufgetaucht, als ob er neugierig wäre oder mich antreiben wollte. Ich war vorher noch nie auf der Insel. Nur ganz wenige besuchen sie. Und als ich ankam , bin ich zu ihrem höchsten Punkt geklettert, der Ausblick von da oben war fantastisch. Ich hab die goldenen Lichter der Stadt gesehen und die schwarzen Hügel Richtung Pazifik, und ich hab sogar eine Sternschnuppe gesehen.«  »Eine Sternschnuppe! Sie Glückliche.«  »Ja, ich hab wirklich Glück gehabt.« »Aber Sie haben kein Foto gemacht.«  »Nein.« »Kein Video.« »Nein .«  »Es gibt also keinerlei Aufzeichnung davon.«  »Nein. Nichts außerhalb meines eigenen Gedächtnisses.«  Im Publikum wurde hörbar aufgestöhnt. Bailey wandte sich an die Zuhörer und schüttelte nachsichtig den Kopf.

»Okay«, sagte er in einem Ton , als würde er sich innerlich wappnen, »jetzt wird es persönlich. Wie ihr alle wisst, wurde mein Sohn Gunner mit Zerebralparese geboren. Obwohl er ein sehr erfülltes Leben führt und wir uns stets alle Mühe geben, seine Möglichkeiten zu verbessern, ist er an den Rollstuhl gefesselt. Er kann nicht gehen. Er kann nicht laufen. Er kann nicht kajaken. Was macht er also, wenn er so etwas erleben möchte? Na, er schaut sich Videos an. Er schaut sich Fotos an. Vieles von der Welt erfährt er durch die Erlebnisse anderer. [...] Mae dachte an Baileys Sohn Gunner, und sie dachte an ihren eigenen Vater.

»Glauben Sie, diese Menschen haben ein Recht darauf, die Dinge zu sehen, die Sie gesehen haben?« »Ja.« [...]

»Es war einfach egoistisch, Eamon. Es war egoistisch und nichts anderes. So wie, wenn ein Kind sein Lieblingsspielzeug nicht mit anderen Kindern teilen will. Mir ist klar, dass Heimlichtuerei Teil eines, na ja, abnormen Verhaltenssystems ist. [...]

Bailey sah sie an wie ein stolzer Vater. Als der Beifall abebbte, sprach Bailey mit leiser Stimme, als wollte er sie nur ungern stören. »Sie haben in unserem ersten Gespräch eine Formulierung benutzt, und ich möchte Sie bitten, sie hier zu wiederholen.«  »Naja, es klingt ein bisschen albern, aber ich habe gesagt Teilen ist Heilen.«  Das Publikum raunte anerkennend. Bailey schmunzelte warmherzig. »Ich finde, das klingt überhaupt nicht albern. Gerade bei den vorhin genannten Beispielen passt diese Formulierung doch ausgezeichnet, meinen Sie nicht auch, Mae? Besser könnte man es gar nicht ausdrücken.« [...]

»Was geschieht also, wenn ich anderen etwas vorenthalte, was ich weiß? Bestehle ich dann nicht meine Mitmenschen?«

»In der Tat«, sagte Bailey mit einem ernsten Nicken. Mae blickte ins Publikum und sah, dass die gesamte erste Reihe, die einzigen erkennbaren Gesichter, ebenfalls nickte.

»Und bei ihrer Sprachgewandtheit möchte ich Sie bitten, uns ihre dritte und letzte Erkenntnis mitzuteilen. Was haben Sie gesagt?«

»Also, ich habe gesagt, alles Private ist Diebstahl.«

Bailey wandte sich dem Publikum zu. »Ist das nicht eine interessante Formulierung, Leute? Alles Private ist Diebstahl.« Die Worte erschienen jetzt auf dem Bildschirm hinter ihm, in großen weißen Lettern: [...]

GEHEIMNISSE SIND LÜGEN
TEILEN IST HEILEN
ALLES PRIVATE IST DIEBSTAHL

Maes Kehle war wie zugeschnürt, trocken. Sie wusste, sie würde kein Wort herausbekommen, deshalb hoffte sie, dass Bailey sie nicht auffordern würde, etwas zu sagen. Als hätte er gespürt, wie ihr zumute war, dass sie überwältigt war, zwinkerte er ihr zu und wandte sich ans Publikum.

»Bedanken wir uns doch bitte bei Mae für ihre Offenheit, ihre Intelligenz und ihre tiefe Menschlichkeit, ja?« [...] Irgendwann inmitten des tosenden Beifalls gelang es Bailey, den Clou des Ganzen zu verkünden - dass Mae, um mit anderen all das zu teilen, was sie sah und somit der Welt bieten konnte, auf der Stelle transparent werden würde."
(S.338-346)

Zweites Buch

Zitat
Jetzt, da Washington zu 90 Prozent transparent war, verkümmerten die verbliebenen zehn Prozent der Volksvertreter unter dem Argwohn ihrer Kollegen und Wähler, der wie eine sengende Sonne mit der Frage auf sie niederbrannte: Was habt ihr zu verbergen?
(S.353)
Zitat
Jeden Tag war sie ohne Dinge ausgekommen, die sie nicht wollen wollte. Dinge, die sie nicht brauchte. Sie verzichtete inzwischen auf Limo, Energydrinks, Fertignahrung. Auf Cirde-Festen hielt sie sich an einem einzigen Drink fest und versuchte jedes Mal, das Glas nicht ganz auszutrinken. Alles Unmäßige provozierte postwendend eine aufgeregte Welle von besorgten Zings, deshalb hielt sie sich in den Grenzen der Mäßigung. Und sie fand es befreiend. Sie war erlöst von schlechten Gewohnheiten. Sie war erlöst davon, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte, Dinge zu essen und zu trinken, die ihr nicht gut taten. Seit sie transparent geworden war, war sie nobler geworden. Menschen bezeichneten sie als Vorbild.
(S.374)
Zitat
Sie blickte nach unten auf ihr Armband und sah einige Zings, die sich erkundigten, ob es ihr gut ging. Sie wusste, dass sie antworten musste, sonst würden ihre Viewer denken, sie hätte den Verstand verloren. Das war eine der vielen kleinen Anpassungen, an die sie sich gewöhnen musste - jetzt waren da draußen Tausende, die sahen, was sie sah, Zugang zu ihren Gesundheitsdaten hatten, ihre Stimme hörten, ihr Gesicht sahen, sie war permanent über irgendeine der SeeChange-Kameras auf dem Campus sichtbar, zusätzlich zu der an ihrem Monitor, und jede kleinste Abweichung von ihrer üblichen guten Laune fiel den Leuten auf.
(S.376)
Zitat
Um 22.11 Uhr verabschiedete sie sich von ihren Viewern - zu dem Zeitpunkt waren es nur noch 98.027, und ein paar Tausend erwiderten ihre Gute-Nacht-Wünsche -, zog sich die Kamerakette über den Kopf und legte sie ins Etui. Sie hatte die Erlaubnis, die SeeChangeKameras in ihrem Zimmer abzuschalten, tat es aber nur selten. Sie wusste, dass das Bildmaterial, das sie selbst beispielsweise über Bewegungen während des Schlafes sammelte, eines Tages nützlich sein könnte, also ließ sie die Kameras an.
(S.378)

Kalden zu Mae:

Zitat
Du bist das Gesicht. Das gütige, freundliche Gesicht von allem. Und die Schließung des Circle - genau das haben du und dein Freund Francis erst möglich gemacht. Deine Idee mit dem Pflicht-Circle-Account und sein Chip. TruYouth? Das ist krank, Mae. Siehst du das nicht? Alle Kinder kriegen einen Chip eingepflanzt, für ihre Sicherheit, wenn sie Babys sind. Und ja, der Chip rettet Leben. Aber was dann? Denkst du, sie lassen ihn plötzlich entfernen, wenn sie achtzehn sind? Nein. Im Interesse von Erziehung und Sicherheit wird alles, was sie gemacht haben, aufgezeichnet, getrackt, dokumentiert, analysiert - für immer und ewig. Und dann, wenn sie alt genug sind, um zu wählen, zu partizipieren, ist ihre Mitgliedschaft obligatorisch. Und da schließt sich der Circle. Alle werden getrackt, von der Wiege bis zur Bahre, ohne die Möglichkeit, zu entkommen.« 
(S.545-546)

Drittes Buch

Zitat
"Was, wenn Kalden sie nicht um Hilfe gebeten hätte? Was, wenn er ihr nicht vertraut hätte? Was, wenn er die Sache selbst in die Hand genommen oder, schlimmer noch, sein Geheimnis jemand anderem anvertraut hätte? Jemandem, der nicht so integer war wie sie?"
(S.555)


Unterrichtsmaterial

"Larry Page will mit den Google-Milliarden große Menschheitsprobleme lösen. Jetzt redet er über seine Pläne – und sein Erweckungserlebnis mit zwölf."

Rezensionen u.ä.

Linkliste

Siehe auch