Der Junge im gestreiften Pyjama: Unterschied zwischen den Versionen
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Bruno, der neunjährige Sohn des Lager-Kommandeurs von [[Auschwitz]], trifft an einer unbeobachteten Stelle des Zauns den gleichaltrigen Shmuel, sie sehen sich regelmäßig und entwickeln so etwas wie eine Freundschaft von der einen Zaunseite zur anderen. Bruno versteht die Welt und die Ansichten Schmuels nicht, Schmuel wiederum verhält sich sehr kontrolliert und zurückhaltend, wenn es um seine Erfahrungen im Lager geht. So kommt Bruno schließlich auf die kindliche Idee, sich ins Lager schleichen zu können, um dort gemeinsam mit Shmuel nach dem seit Tagen verschwundenen Vater zu ,forschen‘. Natürlich geht das nicht gut und auch nicht gut aus. | Bruno, der neunjährige Sohn des Lager-Kommandeurs von [[Auschwitz]], trifft an einer unbeobachteten Stelle des Zauns den gleichaltrigen Shmuel, sie sehen sich regelmäßig und entwickeln so etwas wie eine Freundschaft von der einen Zaunseite zur anderen. Bruno versteht die Welt und die Ansichten Schmuels nicht, Schmuel wiederum verhält sich sehr kontrolliert und zurückhaltend, wenn es um seine Erfahrungen im Lager geht. So kommt Bruno schließlich auf die kindliche Idee, sich ins Lager schleichen zu können, um dort gemeinsam mit Shmuel nach dem seit Tagen verschwundenen Vater zu ,forschen‘. Natürlich geht das nicht gut und auch nicht gut aus. | ||
Die Geschichte wird strikt aus der personalen Perspektive Brunos erzählt, Leser und Leserin erfahren nie mehr, als Bruno sieht und denkt. Das ist ziemlich wenig, weil Bruno nicht viel sieht und das, was er sieht, absolut nicht verstehen kann. Erwachsene oder in Geschichte gut informierte Leser wissen natürlich, dass es sich um eines der schlimmsten KZs und Todeslager handelt und aus dieser Diskrepanz von Protagonistensicht und Leserwissen erwächst die Spannung des Buches. An keiner Stelle ist das Geschilderte „hart“ oder grausam, wir erfahren keine Details von Brutalitäten, all dies bleibt unausgesprochen oder lediglich angedeutet. Die beschränkte und naive Kindperspektive federt die Härte der Ereignisse systematisch ab, das Unbegreifliche der Ereignisse bleibt letztendlich auch unbegriffen. | Die Geschichte wird strikt aus der personalen Perspektive Brunos erzählt, Leser und Leserin erfahren nie mehr, als Bruno sieht und denkt. Das ist ziemlich wenig, weil Bruno nicht viel sieht und das, was er sieht, absolut nicht verstehen kann. Erwachsene oder in Geschichte gut informierte Leser wissen natürlich, dass es sich um eines der schlimmsten KZs und Todeslager handelt und aus dieser Diskrepanz von Protagonistensicht und Leserwissen erwächst die Spannung des Buches. An keiner Stelle ist das Geschilderte „hart“ oder grausam, wir erfahren keine Details von Brutalitäten, all dies bleibt unausgesprochen oder lediglich angedeutet. Die beschränkte und naive Kindperspektive federt die Härte der Ereignisse systematisch ab, das Unbegreifliche der Ereignisse bleibt letztendlich auch unbegriffen. | ||
Dem Erfolg des Buches hat diese radikale Perspektiv-Verengung nicht geschadet, im Gegenteil: Das Buch ist nach Aussagen von Verlag und Autor überall in der Welt ein Erfolg | |||
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# Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Begegnung am KZ-Zaun überhaupt und über einen längeren Zeitraum möglich ist, ist geich null. Damit haben wir eine eher ins Märchenhafte gehende Grundsituation. | |||
# Die Nähe von Tod und Vernichtung wird - nach meinem Empfinden - verharmlost und, wenn z.B. durchgehend von „Aus-Wisch“ und dem „Furor“ die Rede ist, fast humoristisch verfremdet. | |||
# Die Perspektive des neunjährigen Bruno kommt mir unglaubwürdig vor. Er ist in allen Dingen sehr schlau und geradezu frühreif. Nur in seinen Gesprächen mit Schmuel ist er über die Maßen naiv und in den Grenzen seiner Kinderwelt gefangen. | |||
# Das Verhalten des ebenfalls neunjährigen Schmuel ist derart unemotional und kontrolliert, wie es für ein Kind dieses Alters und in seinen Lebensumständen kaum vorstellbar ist. Natürlich hat er ein praktisches Interesse daran, sich die Freundschaft Brunos so lange wie möglich zu erhalten und darf diese darum nicht mit allzuviel Wirklichkeit belasten. Es gibt aber auch die emotionale Seite und da wäre es nur natürlich, dass ein Kind sich entlasten und ausprechen muss. | |||
# Im Gesamtgefüge des Romanes ist die Begegnung der beiden Jungen sogar fast eine Nebenhandlung, die ständig von kindlichem Geschwisterzank, einigen Rückblenden und Randepisoden unterbrochen wird. Das erzählerische Potenzial, das ein solches - wenn auch unwahrscheinliches - Aufeinandertreffen von zwei Kindern und Welten in sich birgt, ist geradezu verschenkt. Von den Gesprächen der beiden Kinder, die sich ja fast über ein Jahr hinziehen, erfährt man fast nichts. | |||
Fazit: Mir scheint die literarische Qualität dieses Buches fragwürdig, ebenso die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Thema. Andererseits ist es bedenkenswert und auch gut nachvollziehbar, wenn der Autor im Nachwort erklärt, dass es aus seiner Sicht nur einen „respektvollen Weg gibt“, sich dem Thema zu nähern, nämlich mit den Augen eines „sehr naiven Kindes“ (S. 270). | |||
Er hat es versucht und nun gilt es damit umzugehen. -- Klaus Dautel, 2010|Meinung}} | |||
==Rezeption== | ==Rezeption== |
Version vom 11. April 2018, 07:06 Uhr
Ein Jugendbuch des irischen Autors John Boyne:
- "I was born in Dublin, Ireland, in 1971, and studied English Literature at Trinity College, Dublin, and creative writing at the University of East Anglia, Norwich, where I was awarded the Curtis Brown prize." (www.johnboyne.com)
- Originaltitel: "The Boy in the Striped Pyjamas"
Worum geht's
Bruno, der neunjährige Sohn des Lager-Kommandeurs von Auschwitz, trifft an einer unbeobachteten Stelle des Zauns den gleichaltrigen Shmuel, sie sehen sich regelmäßig und entwickeln so etwas wie eine Freundschaft von der einen Zaunseite zur anderen. Bruno versteht die Welt und die Ansichten Schmuels nicht, Schmuel wiederum verhält sich sehr kontrolliert und zurückhaltend, wenn es um seine Erfahrungen im Lager geht. So kommt Bruno schließlich auf die kindliche Idee, sich ins Lager schleichen zu können, um dort gemeinsam mit Shmuel nach dem seit Tagen verschwundenen Vater zu ,forschen‘. Natürlich geht das nicht gut und auch nicht gut aus.
Die Geschichte wird strikt aus der personalen Perspektive Brunos erzählt, Leser und Leserin erfahren nie mehr, als Bruno sieht und denkt. Das ist ziemlich wenig, weil Bruno nicht viel sieht und das, was er sieht, absolut nicht verstehen kann. Erwachsene oder in Geschichte gut informierte Leser wissen natürlich, dass es sich um eines der schlimmsten KZs und Todeslager handelt und aus dieser Diskrepanz von Protagonistensicht und Leserwissen erwächst die Spannung des Buches. An keiner Stelle ist das Geschilderte „hart“ oder grausam, wir erfahren keine Details von Brutalitäten, all dies bleibt unausgesprochen oder lediglich angedeutet. Die beschränkte und naive Kindperspektive federt die Härte der Ereignisse systematisch ab, das Unbegreifliche der Ereignisse bleibt letztendlich auch unbegriffen.
Dem Erfolg des Buches hat diese radikale Perspektiv-Verengung nicht geschadet, im Gegenteil: Das Buch ist nach Aussagen von Verlag und Autor überall in der Welt ein Erfolg
Dennoch bin ich nicht überzeugt, auch etwas ratlos:
- Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Begegnung am KZ-Zaun überhaupt und über einen längeren Zeitraum möglich ist, ist geich null. Damit haben wir eine eher ins Märchenhafte gehende Grundsituation.
- Die Nähe von Tod und Vernichtung wird - nach meinem Empfinden - verharmlost und, wenn z.B. durchgehend von „Aus-Wisch“ und dem „Furor“ die Rede ist, fast humoristisch verfremdet.
- Die Perspektive des neunjährigen Bruno kommt mir unglaubwürdig vor. Er ist in allen Dingen sehr schlau und geradezu frühreif. Nur in seinen Gesprächen mit Schmuel ist er über die Maßen naiv und in den Grenzen seiner Kinderwelt gefangen.
- Das Verhalten des ebenfalls neunjährigen Schmuel ist derart unemotional und kontrolliert, wie es für ein Kind dieses Alters und in seinen Lebensumständen kaum vorstellbar ist. Natürlich hat er ein praktisches Interesse daran, sich die Freundschaft Brunos so lange wie möglich zu erhalten und darf diese darum nicht mit allzuviel Wirklichkeit belasten. Es gibt aber auch die emotionale Seite und da wäre es nur natürlich, dass ein Kind sich entlasten und ausprechen muss.
- Im Gesamtgefüge des Romanes ist die Begegnung der beiden Jungen sogar fast eine Nebenhandlung, die ständig von kindlichem Geschwisterzank, einigen Rückblenden und Randepisoden unterbrochen wird. Das erzählerische Potenzial, das ein solches - wenn auch unwahrscheinliches - Aufeinandertreffen von zwei Kindern und Welten in sich birgt, ist geradezu verschenkt. Von den Gesprächen der beiden Kinder, die sich ja fast über ein Jahr hinziehen, erfährt man fast nichts.
Fazit: Mir scheint die literarische Qualität dieses Buches fragwürdig, ebenso die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Thema. Andererseits ist es bedenkenswert und auch gut nachvollziehbar, wenn der Autor im Nachwort erklärt, dass es aus seiner Sicht nur einen „respektvollen Weg gibt“, sich dem Thema zu nähern, nämlich mit den Augen eines „sehr naiven Kindes“ (S. 270).
Er hat es versucht und nun gilt es damit umzugehen. -- Klaus Dautel, 2010Rezeption
Das Buch ist nach Aussagen von Verlag und Autor überall in der Welt ein Erfolg:
- "The novel itself won 2 Irish Book Awards, the Bisto Book of the Year, and was shortlisted or won a host of international awards. Amongst other accolades, it spent more than 80 weeks at no.1 in Ireland, topped the New York Times Bestseller List, and was the bestselling book in Spain in both 2007 and 2008. Worldwide, it has sold more than 5 million copies and was the 6th highest selling novel of 2008." (http://www.johnboyne.com/biography.html www.johnboyne.com)
Stimmen
- www.perlentaucher.de fasst zusammen: Die ZEIT, Neue Zürcher Zeitung, FAZ
- "...Boyne ging es wohl darum, sich nicht auf einen konkreten Ort in der Vergangenheit festzulegen, sondern darauf zu verweisen, dass Zäune, wie sie in seinem Text beschrieben werden, auch heute noch existieren. Eben da ließe sich weiter diskutieren. Trauen wir uns heute, diese Zäune anzusehen? Stellen wir die richtigen Fragen? Trauen wir uns, auf Antworten zu bestehen? Oder haben wir uns bequem an diese Zäune gewöhnt und akzeptieren sie, wo wir doch auf der „richtigen“ Seite leben? " (www.focus.de/schule/ 3.11.2008)
- "... als Erwachsenen hat mich die permanent zur Schau gestellte Ahnungslosigkeit von Bruno einfach mit der Zeit genervt und Kinder sollten das Buch sicher nicht ohne Begleitung durch Erwachsene lesen, damit nicht falsche Eindrücke entstehen." (radiergummi.wordpress.com/)
Zum Hörbuch ( 4CD; Argon Hörbuch 2007)
- "Vom Furor und Aus Wisch. Ein Kinderabenteuer aus dem Jahr 1942"
- "Der großartige Schauspieler Ulrich Matthes liest mit seinem virtuos einfühlsamen Timbre. Dialogischer Witz inbegriffen. Wie alle oben erwähnten Romane, ist "Der Junge im gestreiften Pyjama" kein Kinderbuch, wie mancher Kollege schrieb, sondern ein Roman für ältere Teenager und Erwachsene. Fazit: Ist hart, ist heftig. Solltest du kennen." (Schallplattenmann.de)
Der Film
- Website zum Film: www.der-junge-im-gestreiften-pyjama.de - "Zäune trennen, doch Hoffnung eint."
- GB - 2008 - Regie: Mark Herman - mit Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis - 94 Min. - ab 12 Jahren. Filmstart in Deutschland: 7. Mai 2009
Stimmen zum Film
Buch und Film im Unterricht
- ist ab Juni 2009 als pdf-Download (1,1 MB) verfügbar. ("filmabc: plattform für film- und medienbildung")
- Anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Bundesrepublik hat der Fischer-Verlag sein "Programm durchforstet nach Titeln, die für eine Rückschau (und einen Ausblick) interessant sein könnten"
- und dabei auch Unterrichtsmaterial zu "Der Junge im gestreiften Pyjama" gefunden und als pdf (0,7 MB) zum Download zur Verfügung gestellt:
- Jahrgangsstufe 9 (G8) - Unterrichtsmodell für einen fächerverbindenden Unterricht - Deutsch und Geschichte / Gesellschaftslehre - von Stephanie Sorhage
- Zur Verfilmung von "The Boy in the Striped Pajamas" gibt es auch "A discussion guide for youth group facilitators, educators and families for use with youth ages 13-18" als kostenloser pdf-Download (4 MB):
- "Engage in discussions that encourage thinking and learning about:
- • The essence of true friendship
- • The courage to engage in humane actions
- • The uses and abuses of obedience and conformity
- • The development and consequences of prejudice and discrimination
- Quelle: www.youthfilmproject.org (USA)
- Rabbi Benjamin Blech mit einer äußerst kritischen Würdigung des Buches (in englischer Sprache) bei www.aish.com
- Zitate: "This well-meaning book ends up distorting the Holocaust.", "My Auschwitz friend read the book at my urging. He wept, and begged me tell everyone that this book is not just a lie and not just a fairytale, but a profanation. No one may dare alter the truths of the Holocaust, no matter how noble his motives. The Holocaust is simply too grim a subject for Grimm fairytales."
- StudentInnen des Seminars "Das Dritte Reich in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern" (Uni Duisburg-Essen 2008) kommentieren Bücher zu diesem Thema, unter anderem auch "Der Junge im gestreiften Pyjama"
Unterrichtsmaterial
- Lehrerheft von Michaela und Udo Staleker, ca. 80 Seiten mit Unterrichtsmaterialien, Schreibanlässen, Gestaltungsaufgaben für die Klassen 8-9, Verlag Krapp&Gutknecht, 16,80 €, mit einigen Beispielmaterialien zum Download
- Tilman von Brand: Die Lücke im Zaun. Literarisches und historisches Lernen mit J.Boynes 'Der Junge im gestreiften Pyjama' (ab 9. Schuljahr), in: Praxis Deutsch 224/2010 S. 42-51
Siehe auch
- "Leseempfehlung mit Fragezeichen" - von K.Dautel zur Diskussion gestellt in der ZUM-Unity:
- Anne Frank
- Auschwitz
- Kinder- und Jugendliteratur