Katholische Religionslehre/Gottesbeweis: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Johannes Duns Scotus (1275-1309) ===
=== Johannes Duns Scotus (1275-1309) ===
=== Immanuel Kant (1724-1804) ===
=== Immanuel Kant (1724-1804) ===
Kant geht aus von der Unterscheidung zwischen bestimmenden und reflektierenden Urteilen. Wir können bestimmen – also auch vor- und zurückberechnen -, wie die Dinge sich verhalten, wenn wir ihren '''Mechanismus''' verstanden haben. Ein Mechanismus lässt sich in mathematischen Gleichungen ausdrücken, man kann ihn zeichnen und wenn man die passenden Materialien zur Hand hat, auch nachbauen. Die mathematische Beschreibung der Himmelsmechanik war der viel bewunderte Erfolg der Epoche Kants, doch bei allem Scharfsinn war es Isaac Newton (1643-1727) nicht gelungen, die Stabilität eines Systems aus mehr als zwei Himmelskörpern nachzuweisen. Deshalb glaubte er, dass Gott persönlich für die Feinjustierung der Umlaufbahnen der Sterne sorgen müsse. Kants Zeitgenosse Pierre Simon de Laplace (1749-1827) erfand neue Näherungsverfahren in den mechanischen Berechnungen und konnte vermeintlich das Mehrkörperproblem beherrschen: ''Wo bleibt denn Gott in ihrer Theorie'', fragte ihn Kaiser Napoleon. ''Diese Hypothese habe ich nicht nötig'', antwortete der Physiker dem erstaunten Herrscher. Erst zweihundert Jahre später stellt sich nun heraus, dass Laplace sich die Sache etwas zu einfach gemacht hatte und in seinen Berechnungen Terme unberücksichtigt ließ, die sich im Laufe lan¬ger Zeiträume aufsummieren und für Instabilität im Sonnensystem sorgen. Die Sterne bewegen sich nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit auf denselben Bahnen, sondern verändern diese nur sehr, sehr langsam.
Die bestimmende Urteilskraft gibt keine vollständige Erkenntnis über alles und jedes. Zum Beispiel ist die bewegende Kraft – im Sonnensystem die Schwerkraft – etwas, das nicht me¬chanisch gedeutet werden kann. Newton hatte sie für eine direkte göttliche Wirkung ge¬hal¬ten. Auch was die Materie ist und wie die Unterschiede zu Stande kommen zwischen den verschiedenen Chemikalien, zwischen anorganischen und organischen Stoffen, lässt sich durch bestimmende Urteilskraft nicht klären. Wer denkt, das habe sich durch die Fortschritte der physikalischen Chemie seit Kant geändert, übersieht, dass man die Objekte der Quan¬tenmechanik nicht zeichnen kann, diese also nicht im kantischen, sondern nur in einem über¬tragenen Sinn „mechanisch“ sind. Die Interpretation der Quan¬ten¬phy¬sik ist aber unter Phy¬sikern und Philosophen sehr umstritten.
Im Ergebnis müssen wir entweder darauf verzichten, über Dinge zu reden, deren Mecha¬nismus wir nicht verstanden haben, die vielleicht gar keine Mechanismen sind, oder wir müssen ein an¬deres Urteilsvermögen nutzen: Während die bestimmende Urteilskraft Ursache-Wirkungs¬-Zu¬sammenhänge darstellt, untersucht die reflektierende Urteilskraft Kausalität nach Begrif¬fen. Dass es so etwas gibt, wissen wir aus unserer eigenen Erfahrung: Gleich werde ich früh¬stücken, und mir ist es dabei wurschtegal, wie es mein Gehirn anstellt einen solchen Vorsatz zu fassen, welche Mechanismen ich in Bewegung setze, um in die Küche zu kommen und alles zu richten; mir geht es nur darum, dass ich mir ein gut belegtes Brötchen einver¬leiben und eine heiße Tasse Tee dazu trinken kann. Den Begriff „Frühstücken“ verstehe ich durch meine reflektierende Urteilskraft, ohne irgendwelche Mechanismen konstruieren zu können, und wenn ich den Amseln in meinem Garten zusehe, die Raupen aus der Wiese picken, dann glaube ich durch meine reflektierende Urteilskraft in etwa verstehen zu können, was die Vö¬gel da machen, und dass man es etwas mit meinem eigenen Frühstück gut vergleichen kann.
Eine Untersuchung meiner Umwelt durch die reflektierende Urteilskraft wird also darauf hin¬aus¬laufen, Erscheinungen in der Natur als Analogie meiner zweckbestimmten Hand¬lungsweise zu erkennen. Darauf beruht die kantische Definition eines Lebewesens, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihm alles Mittel und wechselseitig auch Zweck ist. Kant nimmt durchaus den Gedanken Darwins vorweg, dass alle Lebewesen miteinan¬der na¬türlicherweise verwandt seien, und er diskutiert sogar, ob nicht die Erde in einem der Kris¬talli¬sation ähnlichen Vorgang urtümliches Leben spontan hervorgebracht haben könnte. Das än¬dert aber nichts am Grundsatz: Wir können die Verstehensleistung, die wir durch die re¬flek¬¬tierende Urteilskraft erreichen, nicht auf Mechanismen reduzieren, also bleibt die Zweck¬mä¬ßig¬keitsbetrachtung zulässig und notwendig, um das Leben und die Natur insgesamt, in der Leben vorkommt, zu verstehen.
Nachdem er dieses Ergebnis erreicht hat, denkt Kant darüber nach, ob es zulässig ist, aus der Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft ein System zu machen, so etwas wie eine Hierarchie der Zwecke zu ermitteln mit einem Endzweck von allem als Ordnung stiftendem Zentrum. Ja, sagt Kant, das ist nicht nur zulässig, sondern es ist sogar unvermeidlich, denn der Ausgangspunkt aller analogen Anwen¬dun¬gen unserer Begriffe im Tier- und Pflanzenreich, ja in der Natur insgesamt, ist unsere Erfah¬rung Dinge zu begreifen und etwas zu wol¬len. In uns ist die Kausalität nach Begriffen eine Kausalität durch Freiheit, und wenn irgendetwas, dann kann nur das End¬weck der ganzen Welt sein. Ist aber Kausalität durch Freiheit in der Welt möglich, dann muss man auch die Möglichkeit zugestehen, dass die Welt insgesamt durch Kausalität aus Freiheit hervorgebracht worden ist, und das ist eine Möglich¬keit, die ihre Wirklichkeit einschließt. Wenn es sich aber um Frei¬heit handelt, der wir die Exis¬tenz der Welt und unsere eigene Exis¬tenz verdanken, dann ver¬bietet es sich der Weltursache vorschreiben zu wollen, wie sie zu sein und sich zu benehmen habe. Deshalb kommt Kant zu dem Schluss:
Die teleolo¬gi¬sche Naturbetrachtung treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen, kann aber selbst keine hervorbringen.
Damit ist eigentlich auch die Falsifikationsbedingung der Gottesüberzeugung ausgesprochen:
Löst die menschliche Freiheit in einen Mechanismus auf, dann werden wir euch zugeben, dass Freiheit unmöglich und Gott nicht existent ist!
=== Kurt Gödel (1906-1978) ===
=== Kurt Gödel (1906-1978) ===



Version vom 6. Januar 2010, 10:23 Uhr

Vorlage:ZBK

Was ist ein Beweis?

Mathematische Beweise

Am besten nehmen wir ein Beispiel, den Beweis des Euklid für die Unendlichkeit der Reihe der Primzahlen.

Definition: Eine Primzahl ist eine natürliche Zahl, die nur durch sich oder durch 1 glatt geteilt werden kann. Wenn ich einen Kuchen in 7 Stücke aufnschneide, dann können 7 Personen oder eine gerecht bedacht werden, wenn ich ihn in 6 Stücke teile, kann ich auch 2 oder 3 Personen einen gerechten Anteil geben. Deshalb ist 7 eine Primzahl und 6 nicht.

Wenn wir annehmen, es gebe eine höchste Primzahl, dann gibt es auch eine Liste aller Primzahlen, und ich kann ein Produkt aller Primzahlen bilden. Ich nenne es PP.

Dann gilt: PP-1 und PP+1 können nicht Produkte der Primzahlen sein, die wir schon kennen; sie müssen entweder selber Primzahlen sein oder das Produkt zweier Primzahlen, die in unserer Liste noch nicht vorkommen.

Beispiel: Nehmen wir einmal wider besseres Wissen an, die Zahl 13 sei die größte Primzahl. Das Produkt 2*3*5*7*11*13 = 30030 wäre dann das Produkt aller Primzahlen (PP). Doch die beiden Zahlen PP-1 und PP+1 können durch keinen der Primfaktoren von PP geteilt werden, und , in der Tat: 30029 ist eine Primzahl, und 30031 = 59 * 509 ist das Produkt zweier Primzahlen, die größer als 13 sind.

Folgerung: Die Vorstellung einer Liste aller Primzahlen ist widersprüchlich; es gibt keine höchste Primzahl.

Kommentar: Gedankengänge wie diese beweisen die Leistungsfähigkeit der Mathematik. Die größte bislang gefundene Primzahl ist 2^43112609 - 1.[1] Und doch wissen wir sicher, dass es noch größere Primzahlen gibt, und diese Gewissheit geht ins Grenzenlose.

Aber es kann keinen Gottesbeweis nach Art mathematischer Beweise geben, denn die Mathematik kann nur über Objekte reden, die sie definieren kann. Und Gott ist kein definierbares Objekt.

Wissenschaft als Dialog mit der Natur

Beweise nach juristischem Vorbild

Vor Gericht gelten Zeugenaussagen und Indizien.

Da Indizien mehr oder weniger wissenschaftlich fundierte Beobachtungsaussagen sind, haben wir damit in der Gottesfrage ähnliche Schwierigkeiten wie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überhaupt. Dazu kommen wir im nächsten Unterabschnitt.

Zeugenaussagen für die Existenz Gottes gibt es genug: Amos, Jesaia, Jeremia, Paulus und viele andere Propheten haben in historisch belastbaren Quellenschriften zu Protokoll gegeben, dass sie Gott begegnet sind.

Aber vor Gericht muss auch geprüft werden, ob eine Zeugenaussage glaubwürdig ist. Wer aber die Glaubwürdigkeit der Propheten anzuerkennen bereit ist, der ist in der Gottesfrage schon positiv entschieden und benötigt keinen Beweis mehr.

Aber vor Gericht ist auch noch ein anderer Punkt entscheidend: Die Frage der Beweislast. Das Recht arbeitet mit Vermutungen, zum Beispiel mit der Unschuldsvermutung, die denjenigen, der jemandem eine Straftat vorwirft, zum Beweis verpflichtet, während der Verteidiger des Verdächtigen die Unschuld nicht beweisen muss.

Wer stellt in der Gottesfrage die weitergehende - die beweispflichtige - Behauptung auf? – Zunächst scheint es der zu sein, der behauptet: „Es gibt Gott.“ Wenn man aber untersucht, was die gegenteilige Behauptung bedeutet, „es gibt keinen Gott,“ dann erkennt man, dass sie viel weiter reicht: Denn da wird ja behauptet, dass es keine übernatürlichen Ursachen geben kann, dass demnach alles nach Naturgesetzen geschieht und deshalb auch naturwissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist.

Wenn wir hingegen zugeben, dass es eine übernatürliche Ursache gibt, dann wissen wir zwar, dass das Verursachte ein Ziel hat, aber wir wissen auch, dass wir ihn nur auf eine einzige Weise herausfinden können, indem wir den Verursacher nach dem Sinn fragen.

Die Folgen sind bis in alltägliche Konflikte hinein gravierend: Wer an die Allzuständigkeit der Wissenschaft glaubt, hat eine Vorstellung, dass man alles mit Gewissheit wissen könnte. Dazu aller¬dings benötigt der Einzelne Fachleute. Wie beispielsweise ein Kranker, der von seinen Ärzten Diagnosen, Pillen, Operationen oder Transplantationen bekommt, deren Wirkung er nicht begreift, von denen also nur der Fachmann weiß, ob es wirklich gut ist oder nicht. Für einen Gottgläubigen gibt es nur eine Art der Gewissheit: „Sich auf die Zusage einer anderen Person (sei es Gott oder sei es ein Mitmensch) verlassen.“ Er wird dem Arzt nicht vor allem deshalb zuhören und seinen Ratschlägen folgen, weil er Fachmann ist. Er wird in dieser Hinsicht keine Illusionen haben, dass es in medizinischen Fragen Gewissheit gebe. Vielmehr enthält alle menschliche Bemühung ein Irrtumsrisiko, und im Arzt sieht ein Gläubiger nicht zuerst den Fachmann, sondern den Mitmenschen, dem er vertraut, dass er nach bestem Wissen und Gewissen informiert und behandelt.

Gläubige anerkennen also eine Welt der Gewissheit, die mit Forschung und Technik hergestellt wird und die niemals absolut ist, sondern immer nur „statistisch“, und sie Anerkennen eine Welt der Verlässlichkeit, die durch Zusagen und Vertrauen hergestellt wird und die genau in dem Maß gilt, in dem die beteiligten Personen zu ihren Zusagen stehen.

Etappen der Gottesbeweisfrage

Xenophon (426-345 v. Chr.)

Aristoteles (384-322 v. Chr.)

Anselm von Canterbury (1033-1109)

Der Prior und Abt Anselm von Canterbury hat als Lehrer seiner Brüder ein Programm formuliert: Fides Quaerens Intellectum: Glaube, der Verstehen erstrebt. Was das bedeutet, erkennt man, wenn es mit dem Verstehen nicht klappt, wie Anselm dem Roscelin vorwirft:

Zitat
Wer - etwas aus der Glaubenslehre - versteht, der danke Gott. Wer es aber nicht versteht, der neige sein Haupt zum Verehren, und setze sich nicht Hörner auf, um zu verstoßen[2]

Das Proslogion ist ein Gebet, wie der Name es sagt, eine Ansprache an Gott. Das Büchlein ist konzentriertester Ausdruck des Anselmschen Programms. Das erste Kapitel ist ein Gebetstext, der es die herrliche Bestimmung und den furchtbaren Sündenfall des Menschen beschreibt, als 2. Kapitel folgt der Gedankengang, der als ontologisches Argument Geschichte gemacht hat:

Zitat
Von dir (Gott) glauben wir, dass du das bist, über das hinaus etwas Größeres nicht gedacht werden kann (aliquid quo maius cogitari non postest). Existiert nun das nicht, über das Größeres nicht gedacht werden kann, nur weil der Tor sagt: Es ist kein Gott (Psalm 10,4)?

Aber wenn ich doch sage „Etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann,“ so versteht er doch, was ich sage, und was er versteht, ist in seinem Verstand. Ist es aber nur in seinem Verstand oder auch in der Wirklichkeit? Wenn es nur in seinem Verstand ist, so könnte man sich doch wenigstens denken, dass es auch wirklich existiert, und das ist größer. Etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, wenn es nur im Verstand ist, wäre also etwas, über das hinaus Größeres gedacht werden kann, (nämlich dass es auch wirklich existiert), und das kann nicht sein.

Es muss also etwas existieren, über das hinaus größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstand als auch in der Wirklichkeit.[3]

Kommentar:

  1. Dieser kurze und einfache Gedankengang ist der meist diskutierte „Gottesbeweis“ überhaupt. Auf welch schmalem Grad sich der Gedankengang bewegt, zeigt sich im Grunde erst im 15. Kapitel des Proslogion, in welchem Anselm beweist, dass „etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“ größer ist als alles, was gedacht werden kann. Der fiktive Gesprächspartner könnte jetzt sein allererstes Zugeständnis noch einmal zur Diskussion stellen: Das war doch etwas naiv, dass ich dir zugegeben habe, ich hätte verstanden, was du sagtest: „Etwas über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann.“ Jetzt beweist du mir aber, dass ich dieses etwas gar nicht denken kann, weil es größer ist als alles, was ich denken kann. Wie kann ich etwas „verstehen“, was ich nicht „denken“ kann? – Ich nehme also mein Zugeständnis, ich hätte verstanden, was du sagtest, zurück.
  2. In diesem Zusammenhang ist der Anfang des Gedankenganges sehr wichtig: Von dir, Gott, glauben wir, dass du etwas bist, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Gott ist also nicht etwas, was wir uns ausgedacht haben oder ausdenken könnten, sondern wir sind auf diesen Gedanken nur gekommen, weil er sich uns durch Schöpfung und Offenbarung mitgeteilt hat und wir darauf mit unserem Glauben geantwortet haben. Dann heißt der Beweis in einem Satz zusammengefasst: Das gläubige Verstehen Gottes sprengt jedes denkbare System des Denkens.
  3. Religiös sein, das bedeutet unter Umständen lebenslang auf Sexualität zu verzichten und für seine Überzeugungen mit seinem Leben einzustehen. Es ist deshalb eine ziemlich merkwürdige Erwartung, dass sich ein Mensch auf eine Religion einlässt, weil er einen intelligenten Gedankengang hört oder liest. Auf der anderen Seite wäre es merkwürdig, wenn im Glauben erfasst wird, was wirklich ist, dieser Glaube aber zugleich allem, was wir logisch finden, komplett widerspräche. Diese „Lücke“ schließt das Unum Argumentum, indem es jeden verunsichert, der sich in abgeschlossenen Systemen unter einem leeren Himmel gemütlich einrichten möchte. Dadurch gibt es dem Kraft, der sich auf den Glauben einlässt; aber Glauben bleibt in jeder Hinsicht „gewagt“– als Herausforderung an das Denken und an das Handeln gleichermaßen.

Johannes Duns Scotus (1275-1309)

Immanuel Kant (1724-1804)

Kant geht aus von der Unterscheidung zwischen bestimmenden und reflektierenden Urteilen. Wir können bestimmen – also auch vor- und zurückberechnen -, wie die Dinge sich verhalten, wenn wir ihren Mechanismus verstanden haben. Ein Mechanismus lässt sich in mathematischen Gleichungen ausdrücken, man kann ihn zeichnen und wenn man die passenden Materialien zur Hand hat, auch nachbauen. Die mathematische Beschreibung der Himmelsmechanik war der viel bewunderte Erfolg der Epoche Kants, doch bei allem Scharfsinn war es Isaac Newton (1643-1727) nicht gelungen, die Stabilität eines Systems aus mehr als zwei Himmelskörpern nachzuweisen. Deshalb glaubte er, dass Gott persönlich für die Feinjustierung der Umlaufbahnen der Sterne sorgen müsse. Kants Zeitgenosse Pierre Simon de Laplace (1749-1827) erfand neue Näherungsverfahren in den mechanischen Berechnungen und konnte vermeintlich das Mehrkörperproblem beherrschen: Wo bleibt denn Gott in ihrer Theorie, fragte ihn Kaiser Napoleon. Diese Hypothese habe ich nicht nötig, antwortete der Physiker dem erstaunten Herrscher. Erst zweihundert Jahre später stellt sich nun heraus, dass Laplace sich die Sache etwas zu einfach gemacht hatte und in seinen Berechnungen Terme unberücksichtigt ließ, die sich im Laufe lan¬ger Zeiträume aufsummieren und für Instabilität im Sonnensystem sorgen. Die Sterne bewegen sich nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit auf denselben Bahnen, sondern verändern diese nur sehr, sehr langsam.

Die bestimmende Urteilskraft gibt keine vollständige Erkenntnis über alles und jedes. Zum Beispiel ist die bewegende Kraft – im Sonnensystem die Schwerkraft – etwas, das nicht me¬chanisch gedeutet werden kann. Newton hatte sie für eine direkte göttliche Wirkung ge¬hal¬ten. Auch was die Materie ist und wie die Unterschiede zu Stande kommen zwischen den verschiedenen Chemikalien, zwischen anorganischen und organischen Stoffen, lässt sich durch bestimmende Urteilskraft nicht klären. Wer denkt, das habe sich durch die Fortschritte der physikalischen Chemie seit Kant geändert, übersieht, dass man die Objekte der Quan¬tenmechanik nicht zeichnen kann, diese also nicht im kantischen, sondern nur in einem über¬tragenen Sinn „mechanisch“ sind. Die Interpretation der Quan¬ten¬phy¬sik ist aber unter Phy¬sikern und Philosophen sehr umstritten.

Im Ergebnis müssen wir entweder darauf verzichten, über Dinge zu reden, deren Mecha¬nismus wir nicht verstanden haben, die vielleicht gar keine Mechanismen sind, oder wir müssen ein an¬deres Urteilsvermögen nutzen: Während die bestimmende Urteilskraft Ursache-Wirkungs¬-Zu¬sammenhänge darstellt, untersucht die reflektierende Urteilskraft Kausalität nach Begrif¬fen. Dass es so etwas gibt, wissen wir aus unserer eigenen Erfahrung: Gleich werde ich früh¬stücken, und mir ist es dabei wurschtegal, wie es mein Gehirn anstellt einen solchen Vorsatz zu fassen, welche Mechanismen ich in Bewegung setze, um in die Küche zu kommen und alles zu richten; mir geht es nur darum, dass ich mir ein gut belegtes Brötchen einver¬leiben und eine heiße Tasse Tee dazu trinken kann. Den Begriff „Frühstücken“ verstehe ich durch meine reflektierende Urteilskraft, ohne irgendwelche Mechanismen konstruieren zu können, und wenn ich den Amseln in meinem Garten zusehe, die Raupen aus der Wiese picken, dann glaube ich durch meine reflektierende Urteilskraft in etwa verstehen zu können, was die Vö¬gel da machen, und dass man es etwas mit meinem eigenen Frühstück gut vergleichen kann.

Eine Untersuchung meiner Umwelt durch die reflektierende Urteilskraft wird also darauf hin¬aus¬laufen, Erscheinungen in der Natur als Analogie meiner zweckbestimmten Hand¬lungsweise zu erkennen. Darauf beruht die kantische Definition eines Lebewesens, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihm alles Mittel und wechselseitig auch Zweck ist. Kant nimmt durchaus den Gedanken Darwins vorweg, dass alle Lebewesen miteinan¬der na¬türlicherweise verwandt seien, und er diskutiert sogar, ob nicht die Erde in einem der Kris¬talli¬sation ähnlichen Vorgang urtümliches Leben spontan hervorgebracht haben könnte. Das än¬dert aber nichts am Grundsatz: Wir können die Verstehensleistung, die wir durch die re¬flek¬¬tierende Urteilskraft erreichen, nicht auf Mechanismen reduzieren, also bleibt die Zweck¬mä¬ßig¬keitsbetrachtung zulässig und notwendig, um das Leben und die Natur insgesamt, in der Leben vorkommt, zu verstehen.

Nachdem er dieses Ergebnis erreicht hat, denkt Kant darüber nach, ob es zulässig ist, aus der Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft ein System zu machen, so etwas wie eine Hierarchie der Zwecke zu ermitteln mit einem Endzweck von allem als Ordnung stiftendem Zentrum. Ja, sagt Kant, das ist nicht nur zulässig, sondern es ist sogar unvermeidlich, denn der Ausgangspunkt aller analogen Anwen¬dun¬gen unserer Begriffe im Tier- und Pflanzenreich, ja in der Natur insgesamt, ist unsere Erfah¬rung Dinge zu begreifen und etwas zu wol¬len. In uns ist die Kausalität nach Begriffen eine Kausalität durch Freiheit, und wenn irgendetwas, dann kann nur das End¬weck der ganzen Welt sein. Ist aber Kausalität durch Freiheit in der Welt möglich, dann muss man auch die Möglichkeit zugestehen, dass die Welt insgesamt durch Kausalität aus Freiheit hervorgebracht worden ist, und das ist eine Möglich¬keit, die ihre Wirklichkeit einschließt. Wenn es sich aber um Frei¬heit handelt, der wir die Exis¬tenz der Welt und unsere eigene Exis¬tenz verdanken, dann ver¬bietet es sich der Weltursache vorschreiben zu wollen, wie sie zu sein und sich zu benehmen habe. Deshalb kommt Kant zu dem Schluss:

Die teleolo¬gi¬sche Naturbetrachtung treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen, kann aber selbst keine hervorbringen.

Damit ist eigentlich auch die Falsifikationsbedingung der Gottesüberzeugung ausgesprochen:

Löst die menschliche Freiheit in einen Mechanismus auf, dann werden wir euch zugeben, dass Freiheit unmöglich und Gott nicht existent ist!

Kurt Gödel (1906-1978)

Anmerkungen

  1. Im Internet gibt es eine Seite, die sich der Primzahlforschung widmet.
  2. Brief an Roscelin über die Dreifaltigkeit
  3. Anselm Proslogion c.2