Personenporträts in der Literatur

Aus ZUM-Unterrichten

Wie präsentieren Schriftsteller ihre literarischen Figuren den Lesern? Was kann man davon lernen?

Basiswissen

Zwei Darbietungsformen

In der Literatur werden Figuren → direkt oder → indirekt charakterisiert.

Die „direkte Charakteristik” erfolgt durch den Erzähler oder eine andere Person, die „indirekte Charakteristik” ergibt sich aus dem, was eine Person sagt, und daraus, wie sie handelt. Die indirekte Charakteristik muss also von dem Leser erschlossen werden.

In der „direkten Charakteristik“ präsentiert der Erzähler den Lesern ein manchmal recht umfängliches Gesamtbild der Person. Dabei wird Äußeres beschrieben und es werden auch Charaktereigenschaften dargestellt. Diese Art des Figuren-Portraits herrscht besonders in der Literatur des 19. Jahrhunderts (→ Realismus) vor. Dabei muss der Erzähler nicht unbedingt objektiv und sachlich schildern, sondern kann auch deutlich erkennbar machen, welche Haltung er gegenüber der porträtierten Person einnimmt: Der Erzähler ist dann nicht neutral, sondern parteilich. Manchmal spricht man auch von einem "unzuverlässigen" Erzähler. Damit wird den Lesern nahegelegt, was sie von der Figur halten sollen → Leserbeeinflussung).

In der modernen Literatur porträtieren Schriftsteller*innen eine literarische Figur immer weniger direkt, es gibt umfangreiche Romane, in denen die Hauptfiguren gar nicht oder nur bruchstückhaft beschrieben werden. Dennoch können sich die Leser ein recht anschauliches Bild, eine Vorstellung von der Figur machen, weil diese durch ihre Handlungen, ihre Sprache oder Gedankengänge dargestellt wird. Die indirekte Personencharakterisierung ist vorwiegend in der modernen Literatur der Fall, wo von einem aktiven, mitdenkenden Leser ausgegangen wird, dem keine engen Denkvorgaben gemacht werden sollen.

Unterrichtsidee

Die nachfolgende Zusammenstellung von literarischen Porträts aus der Feder großer Meister kann die Vielfalt der Darbietungsformen andeuten und will zur genaueren Betrachtung anregen. Hierzu dienen folgende:

Fragen an eine literarische Figurencharakteristik
Was ist die Perspektive und die Haltung des Erzählers gegenüber der dargestellten Figur?
Wie ist die Charakteristik aufgebaut?
Was ist als Beschreibung, was ist als Charakterisierung erkennbar?
Ist das Personenporträt ausgewogen?
Worauf legt der Erzähler besonderen Wert?
Ist eine Wirkungsabsicht / Leserbeeinflussung erkennbar?
Wenn ja, welche?
Etwas weniger analytisch, aber durchaus produktiv:
  1. Könntest Du diese Person zeichnen?
  2. Welchen Schauspieler, welche Schauspielerin würdest Du für diese Figur auswählen (casten)?

Porträts

Johann Wolfgang von Goethe

Zwei Porträts

In seinem autobiografischen Werk Dichtung und Wahrheit widmet Goethe das Kapitel 14, Drittes Buch, der Charakterisierung einiger Personen aus seinen frühen Jahren, z.B. J.M.R. Lenz und Friedrich Maximilian Klinger, beide charakteristische Vertreter des „Sturm und Drang”. Klinger porträtiert er mit besonderem Wohlwollen, Lenz dagegen weniger.

„Klingers Äußeres - denn von diesem beginne ich immer am liebsten - war sehr vorteilhaft. Die Natur hatte ihm eine große, schlanke, wohlgebaute Gestalt und eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben; er hielt auf seine Person, trug sich nett, und man konnte ihn für das hübscheste Mitglied der ganzen kleinen Gesellschaft ansprechen. Sein Betragen war weder zuvorkommend noch abstoßend, und, wenn es nicht innerlich stürmte, gemäßigt.

Man liebt an dem Mädchen was es ist, und an dem Jüngling was er ankündigt, und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. Er empfahl sich durch eine reine Gemütlichkeit, und ein unverkennbar entschiedener Charakter erwarb ihm Zutrauen. Auf ein ernstes Wesen war er von Jugend auf hingewiesen; er, nebst einer ebenso schönen und wackern Schwester, hatte für eine Mutter zu sorgen, die, als Witwe, solcher Kinder bedurfte, um sich aufrecht zu erhalten. Alles, was an ihm war, hatte er sich selbst verschafft und geschaffen, so daß man ihm einen Zug von stolzer Unabhängigkeit, der durch sein Betragen durchging, nicht verargte. Entschiedene natürliche Anlagen, welche allen wohlbegabten Menschen gemein sind, leichte Fassungskraft, vortreffliches Gedächtnis, Sprachengabe besaß er in hohem Grade; aber alles schien er weniger zu achten als die Festigkeit und Beharrlichkeit, die sich ihm, gleichfalls angeboren, durch Umstände völlig bestätigt hatten.

Einem solchen Jüngling mußten Rousseaus Werke vorzüglich zusagen. „Emil” war sein Haupt- und Grundbuch, und jene Gesinnungen fruchteten um so mehr bei ihm, als sie über die ganze gebildete Welt allgemeine Wirkung ausübten, ja bei ihm mehr als bei andern. Denn auch er war ein Kind der Natur, auch er hatte von unten auf angefangen; das, was andere wegwerfen sollten, hatte er nie besessen, Verhältnisse, aus welchen sie sich retten sollten, hatten ihn nie beengt; und so konnte er für einen der reinsten Jünger jenes Naturevangeliums angesehen werden, und, in Betracht seines ernsten Bestrebens, seines Betragens als Mensch und Sohn, recht wohl ausrufen: "Alles ist gut, wie es aus den Händen der Natur kommt! " - Aber auch den Nachsatz: "Alles verschlimmert sich unter den Händen der Menschen!" drängte ihm eine widerwärtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit sich selbst, aber außer sich mit der Welt des Herkommens zu kämpfen [...]. Weil nun, in des Jünglings Lage, dieser Kampf oft schwer und sauer ward, so fühlte er sich gewaltsamer in sich zurückgetrieben, als daß er durchaus zu einer so frohen und freudigen Ausbildung hätte gelangen können: vielmehr mußte er sich durchstürmen, durchdrängen; daher sich ein bitterer Zug in sein Wesen schlich, den er in der Folge zum Teil gehegt und genährt, mehr aber bekämpft und besiegt hat.

In seinen Produktionen, insofern sie mir gegenwärtig sind, zeigt sich ein strenger Verstand, ein biederer Sinn, eine rege Einbildungskraft, eine glückliche Beobachtung der menschlichen Mannigfaltigkeit und eine charakteristische Nachbildung der generischen Unterschiede. Seine Mädchen und Knaben sind frei und lieblich, seine Jünglinge glühend, seine Männer schlicht und verständig, die Figuren, die er ungünstig darstellt, nicht zu sehr übertrieben; ihm fehlt es nicht an Heiterkeit und guter Laune, Witz und glücklichen Einfällen; Allegorien und Symbole stehen ihm zu Gebot; er weiß uns zu unterhalten und zu vergnügen, und der Genuß würde noch reiner sein, wenn er sich und uns den heitern bedeutenden Scherz nicht durch ein bitteres Mißwollen hier und da verkümmerte. Doch dies macht ihn eben zu dem, was er ist, und dadurch wird ja die Gattung der Lebenden und Schreibenden so mannigfaltig, daß ein jeder theoretisch zwischen Erkennen und Irren, praktisch zwischen Beleben und Vernichten hin und wider wogt."

(aus: Dichtung und Wahrheit. Goethe Werke Hamburger Ausgabe Bd. 10 S. 12-14, zitiert nach Projekt Gutenberg DE

J.W.v.Goethe über Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-92)

JMRLenz

„Ich lernte ihn erst gegen das Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit, uns zu treffen, und teilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige Jünglinge, ähnliche Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz, ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme, nicht ganz fließende Sprache und ein Betragen, das zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend einem jungen Manne wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eigenen, las er sehr gut vor und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüßte ich nur das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden.”
aus: Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 11. Buch, zitiert nach Projekt Gutenberg-DE.

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (1815)

In dieser Erzählung ist es nicht der Erzähler, sondern der Protagonist Nathanael, welcher in einem Brief Kindheitserlebnisse schildert, die sich traumatisch auf sein späteres Leben auswirken sollten. Die Schilderung ist stark geprägt durch die nachwirkende Kinderperspektive. Der Geschilderte ist übrigens der „Sandmann".

„Aber die gräßlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können, als eben dieser Coppelius. – Denke Dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigten grauen Augenbrauen, unter denen ein Paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogener Nase. Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne. Coppelius erschien immer in einem altmodisch zugeschnittenen aschgrauen Rocke, eben solcher Weste und gleichen Beinkleidern, aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen. Die kleine Perücke reichte kaum bis über den Kopfwirbel heraus, die Kleblocken standen hoch über den großen roten Ohren und ein breiter verschlossener Haarbeutel starrte von dem Nacken weg, so daß man die silberne Schnalle sah, die die gefältelte Halsbinde schloß. Die ganze Figur war überhaupt widrig und abscheulich; aber vor allem waren uns Kindern seine großen knotigten, haarigten Fäuste zuwider, so daß wir, was er damit berührte, nicht mehr mochten. Das hatte er bemerkt und nun war es seine Freude, irgend ein Stückchen Kuchen, oder eine süße Frucht, die uns die gute Mutter heimlich auf den Teller gelegt, unter diesem, oder jenem Vorwande zu berühren, daß wir, helle Tränen in den Augen, die Näscherei, der wir uns erfreuen sollten, nicht mehr genießen mochten vor Ekel und Abscheu. Ebenso machte er es, wenn uns an Feiertagen der Vater ein klein Gläschen süßen Weins eingeschenkt hatte. Dann fuhr er schnell mit der Faust herüber, oder brachte wohl gar das Glas an die blauen Lippen und lachte recht teuflisch, wenn wir unsern Ärger nur leise schluchzend äußern durften. Er pflegte uns nur immer die kleinen Bestien zu nennen; wir durften, war er zugegen, keinen Laut von uns geben und verwünschten den häßlichen, feindlichen Mann, der uns recht mit Bedacht und Absicht auch die kleinste Freude verdarb."
aus: Der Sandmann. Zitiert nach Projekt Gutenberg DE)

Thomas Mann: Die Buddenbrooks (1901)

Der erste Auftritt des Münchener Hopfenhändler Alois Permaneder im Hause der wohlhabenden Lübecker Kaufmannsfamilie wird im Roman in Form einer literarischen Karikatur vorgeführt. Hierzu werden sehr unterschiedliche Formen der Charakterisierung eingesetzt, zu denen auch der Dialekt und die distanzierte Perspektive des Gegenübers gehören.

„Es war ein Mann von vierzig Jahren. Kurzgliedrig und beleibt, trug er einen weit offenstehenden Rock aus braunem Loden, eine helle und geblümte Weste, die in weicher Wölbung seinen Bauch bedeckte und auf der eine goldene Uhrkette mit einem wahren Bukett, einer ganzen Sammlung von Anhängseln aus Horn, Knochen, Silber und Korallen prangte, - ein Beinkleid ferner von unbestimmter graugrüner Farbe, welches zu kurz war und aus ungewöhnlich steifem Stoff gearbeitet schien, denn seine Ränder umstanden unten kreisförmig und faltenlos die Schäfte der kurzen und breiten Stiefel. Der hellblonde, spärliche, fransenartig den Mund überhängende Schnurrbart gab dem kugelrunden Kopfe mit seiner gedrungenen Nase und seinem ziemlich dünnen und unfrisierten Haar etwas Seehundsartiges. Die ‘Fliege’, die der fremde Herr zwischen Kinn und Unterlippe trug, stand im Gegensatz zum Schnurrbart ein wenig borstig empor. Die Wangen waren außerordentlich dick, fett, aufgetrieben und gleichsam hinaufgeschoben zu den Augen, die sie zu zwei ganz schmalen, hellblauen Ritzen zusammenpreßten und in deren Winkeln sie Fältchen bildeten. Dies gab dem solcherart verquollenen Gesicht einen Mischausdruck von Ergrimmtheit und biederer, unbeholfener, rührender Gutmütigkeit. Unterhalb des kleines Kinnes lief eine steile Linie in die schmale weiße Halsbinde hinein ... Die Linie eines kropfartigen Halses, der keine Vatermörder geduldet haben würde. Untergesicht und Hals, Hinterkopf und Nacken, Wangen und Nase, alles ging ein wenig formlos und gepolstert ineinander über ... Die ganze Gesichtshaut war infolge aller dieser Schwellungen über Gebühr straff gespannt und zeigte an einzelnen Stellen, wie am Ansatz der Ohrläppchen zu beiden Seiten der Nase, eine spröde Rötung ... In der einen seiner kurzen, weißen und fetten Hände hielt der Herr seinen Stock, in der anderen ein grünes Tirolerhütchen, geschmückt mit einem Gemsbart.
Die Konsulin hatte die Brille abgenommen und stützte sich noch immer in halb stehender Haltung auf das Sofapolster.
„Wie kann ich Ihnen dienen", sagte sie höflich, aber bestimmt.
Da legte der Herr mit einer entschlossenen Bewegung Hut und Stock auf den Deckel des Harmoniums, rieb sich dann befriedigt die frei gewordenen Hände, blickte die Konsulin treuherzig aus seinen hellen, verquollenen Äuglein an und sagte: „I bitt' die gnädige Frau um Verzeihung von wegen dem Kartl; i hob kei onderes zur Hond k'habt. Mei Name ist Permaneder; Alois Permaneder aus München. Vielleicht hat die gnädige Frau schon von der Frau Tochter meinen Namen k'hert -”
Dies alles sagte er laut und mit ziemlich grober Betonung, in seinem knorrigen Dialekt voller plötzlicher Zusammenziehungen, aber mit einem vertraulichen Blinzeln seiner Augenritzen, welches andeutete: „Wir verstehen uns schon ..."
aus: Thomas Mann: Die Buddenbrooks. Teil 6, Kapital 4, Frankfurt/Main 1974 S. 325/6

Heinrich Mann: Der Untertan (1911)

„Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!

Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände - worauf er weglief. […]

Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einem im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie - nach allen diesen Gewalten geriet Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend und auch die Antworten, die er wusste, konnte er nicht geben, weil er heulen musste. Allmählich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann ausnützen, wenn er nicht gelernt hatte - denn alle Angst machte ihn nicht fleißiger oder weniger träumerisch -, und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war plötzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg, voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben und willfährig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte. Mit viel größerer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen, von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er: »Heute hat Herr Behneke wieder drei durchgehauen.« Und wenn gefragt ward, wen: »Einer war ich.«

Denn Diederich war so beschaffen, dass die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, dass die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock."

aus: Heinrich Mann: Der Untertan. Romananfang

Hermann Hesse: Unterm Rad (1913)

„Herr Joseph Giebenrath, Zwischenhändler und Agent, zeichnete sich durch keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten von seinen Mitbürgern aus. Er besaß gleich ihnen eine gesunde, breite Figur, eine leidlich kommerzielle Begabung, verbunden mit einer aufrichtigen, herzlichen Verehrung des Geldes, ferner ein kleines Wohnhaus mit Gärtchen, ein Familiengrab auf dem Friedhof, eine etwas aufgeklärte und fadenscheinig gewordene Kirchlichkeit, angemessenen Respekt vor Gott und der Obrigkeit und blinde Unterwürfigkeit gegen die ehernen Gebote der bürgerlichen Wohlanständigkeit. Er trank manchen Schoppen, war aber niemals betrunken. […] Er schimpfte ärmere Leute Hungerleider, reichere Leute Protzen. Er war Mitglied des Bürgervereins und beteiligte sich jeden Freitag am Kegelschieben im 'Adler', ferner an jedem Backtag sowie an den Voressen und Metzelsuppen.Er rauchte zur Arbeit billige Zigarren, nach Tisch und sonntags eine feinere Sort.
Sein inneres Leben war das des Philisters. Was er etwa an Gemüt besaß, war längst staubig geworden und bestand aus wenig mehr als einem traditionellen, barschen Familiensinn, einem Stolz auf seinen eigenen Sohn und einer gelegentlichen Schenklaune gegen Arme. Seine geistigen Fähigkeiten gingen nicht über eine angeborene, streng abgegrenzte Schlauheit und Rechenkunst hinaus. Seine Lektüre beschränkte sich auf die Zeitung, und um seinen Bedarf an Kunstgenüssen zu decken, war die jährliche Liebhaberaufführung des Bürgervereins und zwischenhinein der Besuch eines Zirkus hinreichend."
aus: Hermann Hesse: Unterm Rad. Frankfurt/Main 1997 S. 7 Romananfang

Max Frisch: Stiller (1954)

Max Frisch, Stiller 1954
„Ihre Haare sind rot, der gegenwärtigen Mode entsprechend sogar sehr rot, jedoch nicht wie Hagebutten-Konfitüre, eher wie trockenes Menning-Pulver. Sehr eigenartig. Und dazu ein sehr feiner Teint; Alabaster mit Sommersprossen. Ebenfalls sehr eigenartig, aber schön. Und die Augen? Ich würde sagen: glänzend, sozusagen wässerig, auch wenn sie nicht weint, und bläulich-grün wie die Ränder von farblosen Fensterglas, dabei natürlich beseelt und also undurchsichtig. Leider hat sie die Augenbrauen zu einem dünnen Strich zusammenrasiert, was ihrem Gesicht eine graziöse Härte gibt, aber auch etwas Maskenartiges, eine fixierte Mimik von Erstauntheit. Sehr edel wirkt die Nase zumal von der Seite, viel unwillkürlicher Ausdruck in den Nüstern. Ihre Lippen sind für meinen Geschmack etwas schmal, nicht ohne Sinnlichkeit, doch muß sie zuerst erweckt werden, und die Figur (in einem schwarzen Tailleur) hat etwas Knappes, etwas Knabenhaftes auch, man glaubt ihr die Tänzerin, vielleicht besser gesagt: etwas Ephebenhaftes, was bei einer Frau in ihren Jahren einen unerwarteten Reiz hat. Sie raucht sehr viel. Ihre sehr schmale Hand, wenn sie die noch lange nicht ausgerauchte Zigarette zerquetscht, ist keineswegs ohne Kraft, keineswegs ohne eine beträchtliche Dosis unbewußter Gewalttätigkeit, wobei sie sich selbst, scheint es, ganz und gar zerbrechlich vorkommt. Sie spricht sehr leise, damit der Partner nicht brüllt. Sie spekuliert auf Schonung. Auch dieser Kniff, glaube ich, ist unbewußt. Dabei duftet sie sehr betörend [...]; es muß eine gediegene Marke sein, man denkt sofort an Paris, an die Parfümerien der Vendôme."
aus: Max Frisch: Stiller, Frankfurt/Main 1994 S. 55/6

Weblinks

  • Figurencharakterisierung - Figurengestaltung im epischen Text, Darstellungsformen und Beispiele (Gert Egle, TeachSam.de)

Siehe auch