Soziale Frage/Staatliche Reformpolitik

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[...] Der eigentliche Beschwerdepunkt des Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz. Er ist nicht sicher, daß er immer Arbeit haben wird, er ist nicht sicher, daß er immer gesund ist, und er sieht voraus, daß er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch eine längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos, und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordinären Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat. Die ordinäre Armenpflege läßt aber viel zu wünschen übrig [...]. Wenn wir in den Berliner Zeitungen lesen von Selbstmord aus Nahrungssorgen, von Leuten, die [...]
Otto von BismarcksWikipedia-logo.png Rede im Deutschen Reichstag am 20. März 1884;

Eine positive Lösung der sozialen Frage stellt Bismarcks Sozialgesetzgebung dar.


M3 Bismarck zur Begründung seiner sozialpolitischen Gesetzgebung

„Der Plan der Reform, den wir nach dem Willen des Kaisers und der verbündeten Regierungen befolgen, läßt sich ja nicht in kurzer Zeit ausführen. Er bedarf zu seiner Ausführung eines Zeitraums von Jahren. Wir hatten uns bemüht, die Lage der Arbeiter nach drei Richtungen hin zu verbessern: einmal, indem wir zu einer Zeit, wo die Arbeitsgelegenheit gering und die Löhne niedrig geworden waren, zum Schutze der vaterländischen Arbeit Maßregeln getroffen haben gegen Konkurrenten, mit anderen Worten, Schutzzölle eingeführt haben zum Schutze der inländischen Arbeit. Infolge dieser Maßregeln hat sich eine wesentliche Besserung der Löhne vollzogen und eine Verminderung der Arbeitslosigkeit. (...) Ein zweiter Plan, der im Sinne der Regierung liegt, ist die Verbesserung der Steuerverhältnisse, indem eine geschicktere Verteilung derselben gesucht wird, wodurch namentlich die drückenden Steuerexekutionen wegen kleiner Beträge, wenn nicht abgeschafft, so doch wesentlich vermindert und vielleicht einer weiteren Verminderung entgegengeführt werden. (...)

Der dritte Zweig der Reformen, die wir erstreben, liegt in der direkten Fürsorge für die Arbeiter. Die Frage von Arbeitszeit und Lohnhöhe ist durch staatliche Einwirkung, überhaupt durch Gesetze außerordentlich schwierig zu lösen, durch irgendeine Gesetzgebung, die man macht, läuft man Gefahr, in die persönliche Freiheit, seine Dienste zu verwerten, sehr erheblich und unnütz einzugreifen. Denn wenn man die milchgebende Kuh oder die eierlegende Henne mit einem Male schlachtet, so geht damit die Industrie ein, um die es sich handelt, weil sie die ihr aufzulegende Last der kurzen Arbeit für hohe Löhne nicht tragen kann. Dann leidet darunter der Arbeiter ebenso wie der Unternehmer. Das ist also die Grenze, die geboten ist, und vor der jede gesetzliche Einwirkung haltmachen muß. Ich habe darüber auch nur sporadisch lokale Klagen gehört. Der eigentliche Beschwerdepunkt des Arbeiters ist die Unsicherheit seiner Existenz. Er ist nicht sicher, daß er immer Arbeit haben wird, er ist nicht sicher, daß er immer gesund ist, und er sieht voraus, daß er einmal alt und arbeitsunfähig sein wird. Verfällt er aber der Armut auch nur durch eine längere Krankheit, so ist er darin nach seinen eigenen Kräften vollständig hilflos, und die Gesellschaft erkennt ihm gegenüber bisher eine eigentliche Verpflichtung außer der ordentlichen Armenpflege nicht an, auch wenn er noch so treu und fleißig die Zeit vorher gearbeitet hat. Die ordinäre Armenpflege läßt aber viel zu wünschen übrig. (...) Für den Arbeiter ist da immer eine Tatsache, daß der Armut und der Armenpflege in einer großen Stadt zu verfallen gleichbedeutend ist mit Elend, und diese Unsicherheit macht ihn feindlich und mißtrauisch gegen die Gesellschaft. Das ist menschlich nicht unnatürlich, und solange der Staat ihm da nicht entgegenkommt, oder solange er zu dem Entgegenkommen des Staats kein Vertrauen hat, da wird er, wo er es finden mag, immer wieder zu dem sozialistischen Wunderdoktor laufen, und ohne großes Nachdenken sich von ihm Dinge versprechen lassen, die nicht gehalten werden. Deshalb glaube ich, daß die Unfallversicherung, mit der wir vorgehen, sobald sie namentlich ihre volle Ausdehnung bekommt auf die gesamte Landwirtschaft, auf die Baugewerbe vor allem, auf alle Gewerke, wie wir das erstreben, doch mildernd auf die Besorgnis und auf die Verstimmung der arbeitenden Klassen wirken wird. Ganz heilbar ist die Krankheit nicht, aber durch die Unterdrückung äußerer Symptome derselben, durch Zwangsgesetze halten wir sie nur auf und treiben sie nach innen. Wenn man mir dagegen sagt, das ist Sozialismus, so scheue ich das gar nicht. Es fragt sich nur, wo liegt die erlaubte Grenze des Staatssozialismus? Ohne eine solche können wir überhaupt nicht wirtschaften. Jedes Armenpflegegesetz ist Sozialismus. War nicht z.B. die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung gloriosen Angedenkens, an deren Zweckmäßigkeit heutzutage niemand mehr zweifeln wird, staatssozialistisch?

Wer den Staatssozialismus als solchen vollständig verwirft, muß auch die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung verwerfen, der muß überhaupt dem Staate das Recht absprechen, da, wo sich Gesetz und Recht zu einer Kette und zu einem Zwang, der unsere freie Armut hindert, verbinden, mit dem Messer des Operateurs einzuschneiden und neue und gesunde Zustände herzustellen. Ich tue aus eigenem Antriebe meine Pflicht, ich halte dies für meine Pflicht und werde dafür kämpfen, solange ich hier das Wort nehmen kann.“
Reden im Deutschen Reichstag am 15. und 20.März 1884, in: Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. Reden, S. 319 f.


M4 SPD-Stellungnahme zur staatlichen Sozialpolitik (Auszug)

„Die Partei erklärt, daß sie nach dem bisherigen Verhalten der herrschenden Klasse weder an ihre ehrlichen Absichten noch an ihre Fähigkeiten glaube. Die angebliche Sozialreform werde nur als taktisches Mitel benutzt, um die Arbeiter von richtigen Wegen abzulenken. Wohl aber hält es der Kongreß für die Pflicht der Partei und ihrer parlamentarischen Vertreter, bei allen auf die ökonomische Lage des arbeitenden Menschen gerichteten Bestrebungen, gleichviel welchen Motiven sie entsprängen, die Interessen der Arbeiterklasse energisch wahrzunehmen; selbstverständlich ohne dabei auch nur einen Augenblick auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu versichten.“
Aus den Beschlüssen des Kopenhagener Kongresses 1893

Aufgabe

1. Gib zunächst die Textquelle in eigenen Worten wieder und erläutere anschließend,wie Bismarck die staatlichen Reformen begründet.

2. Welche Reformen wurden durchgeführt und was hatte dies für Konsequenzen?

3. Welche Absicht verfolgt Bismarck mit seinen Reformen? Wie wird dies von Seiten der SPD aufgenommen?


Unter Otto von Bismarck nahm die Sozialgesetzgebung die soziale Frage in Angriff durch die Schaffung der Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884), Alters- und Invalidenversicherung (1889). Damit versuchte Bismarck der sozialistischen Bewegung den Nährboden zu entziehen, deren Verfolgung durch die Sozialistengesetze sollten ihr Übriges tun.


Aufgabe

weiterführende Aufgabe in Verbindung mit Sozialkunde

Informiere dich über weitere wichtige Wegmarken der gesetzlichen Sozialversicherung in Deutschland.


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Wichtige Wegmarken der gesetzlichen Sozialversicherung in Deutschland

  • 1927 Arbeitslosenversicherung
  • 1933 Abschaffung der Selbstverwaltung
  • 1949 Grundgesetzt mit Sozialstaatsgebot in Artikel 20
  • 1957 Rentenreform
  • 1970 Lohnfortzahlung bei Krankheit auch für Arbeiter
  • 1991/92 Westdeutsches System für ganz Deutschland
  • 1995 Pflegeversicherung}}