Das Funktionenmikroskop
Möchte man im Mathematikunterricht im Bereich der Differentialrechnung den zentralen Begriff der Ableitung einführen, so geht man meist den Weg vom Differenzenquotienten (der mittleren Änderungsrate) zum Differentialquotienten (der lokalen Änderungsrate). Mithilfe des Funktionenmikroskops ergibt sich jedoch noch ein weiterer Zugang, der auf die (lokale) Linearisierung einer Funktionen hinspielt:
Eine in einem Punkt differenzierbare Funktion lässt sich in einer Umgebung dieses Punktes durch eine lineare Funktion approximieren.
Inhaltsverzeichnis |
Kurzbeschreibung einer möglichen Unterrichtseinheit
Zunächst dient das Funktionenmikroskop den Schülern als Einstieg, die lokale Näherung durch lineare Funktionen graphisch und tabellarisch zu erkunden.
Anschließend kann der Begriff der "Tangente" geklärt und deren Eigenschaften untersucht werden. Nun sollte unter dem Gesichtspunkt der (lokalen) Approximierbarkeit der Differenzen- und Differentialquotient genauer bearbeitet, die Tangentensteigung berechnet und anschließend die Ableitungsfunktion gebildet werden. Mögliche Erweiterungen wären dann Beweise der Ableitungsregel, Eingehen auf die Stetigkeit und Anknüpfen an Aspekte wie: Änderungsraten, Näherungen oder Taylor-Entwicklung.
Aufgabenstellung
|
Lösungsskizze
In der Anwendung "Graphs & Geometry" wird die gewählte Funktion eingefügt. Betrachtet man die Funktion in einem geeigneten Umfeld des Punktes , so fällt auf, dass die Funktion in dieser Umgebung nahezu linear verläuft
Gesucht ist daher eine Gerade, die zunächst durch zwei Punkte in naher Umgebung zu verläuft. Aus dieser wird nun durch Verschieben eine "Tangente" durch den Punkt
, deren Steigung und y-Achsenabschnitt wir mithilfe der Funktion "Messen" darstellen lassen können, um somit die Tangentengleichung zu erhalten.
Rechnerisch erhalten wir diese durch die Betrachtung eines Geradenbüschels durch den Punkt
und dessen Schnittpunkt mit der Funktion
. Der Ansatz
und die Betrachtung der Determinante
führen auf m=4 und auf die "Tangenten"-Gleichung
Die gefundene Gerade hat mit dem Funktionsgraph nur einen Schnittpunkt, jedoch reicht diese Eigenschaft nicht um sie als Tangente zu bezeichnen. Denn auch die Gerade x=2 schneidet den Funktionsgraph nur an einer Stelle und ist keineswegs eine Tangente. Somit muss nun noch die Näherungseigenschaft der Gerade verifiziert werden.
Dazu untersuchen wir die in der Aufgabenstellung angegebenen Abstände D1 und r(h) in Abhängigkeit von h. Um auf unsere "Tangente" als ideale Näherungsgerade zu schließen, wiederholen wir dieses bei verschiedenen Geraden, die wir durch Verschieben der Punkte erhalten. Über den Datenerfassungsmodus in "Lists &Spreadsheet" lassen sich die zuvor definierten Variablen D1, D2=r(h) und h automatisch anzeigen.
Hierbei sollte festgestellt werden, dass der Fehler r(h) der Näherungsgerade für h schneller gegen 0 geht, je mehr sie der Tangente ähnelt.
Betrachtet man nun den relativen Fehler , so ist zu erwarten, dass die optimale Näherungseigenschaft und damit die Tangente im eigentlichen Sinne vorliegt, wenn der relative Fehler für h gegen 0 verschwindet. Diese Erkenntnis lässt sich auch durch die sonst übliche rechnerische Herangehensweise gewinnen:
Für die von uns betrachtete Funktion gilt mit
:
Ein Vergleich mit der Form zeigt
und der Grenzwert für h gegen 0 von
geht gegen Null.
Betrachtet man nun beispielsweise die Gerade , die ebenfalls durch den Punkt
verläuft, so fällt auf, dass der Rest zwar wie vorher gegen Null geht, der relative Fehler jedoch gegen 3 konvergiert.
Allgemeiner lässt sich anhand des Geradenbüschels zeigen, dass sich für den relativen Fehler
ergibt, welcher also nur für m=4 gegen Null konvergiert (für h gegen 0).
Und eben diese Steigung haben wir ja auch zuvor für unsere Tangente erhalten. Somit ist ist die beste Näherungsgerade, sprich die Tangenten, diejenige Gerade durch den Punkt P, deren relativer Rest mit h gegen 0 geht. Mit diesen Erkenntnissen kann man dann eine allgemeine Definition formulieren:
Merke:
L ist dann die Steigung der Tangente an den Graphen von f an der Stelle |
An dieser Stelle wäre es dann sinnvoll, die Sprechweise „differenzierbar an der Stelle “ einzuführen. Des weiteren ist nur der Schritt zum Differenzen- und Differentialquotient ein leichtes. Um die Tangentensteigung zu erhalten ist gerade derjenigen Term der Differenz
von Interesse, der nur linear von h abhängig ist. Daher lässt sich schnell auf die bekannte Formel

folgern. Dies entspricht gerade dem Differenzenquotienten, der Grenzwert für h gegen 0 entspricht dem Differentialquotienten.
Situation im Lehrplan
In der Jahrgangsstufe 11 werden im Bereich der Differentialrechnung folgende Themen behandelt
- Mittlere Änderungsrate, durchschnittliche Steigung, Sekante, Differenzenquotienten
- Momentane Änderungsrate, lokale Steigung, Tangente, Grenzprozess des Differentialquotienten
- Ableitung und Ableitungsfunktion, Tangentengleichung
- Ableitungsregeln für ganzrationale Funktionen
- Untersuchung ganzrationaler Funktion bzgl. Nullstellen, Symmetrie, Steigungsverhalten/Hoch- und Tiefpunkte, Krümmungsverhalten/Wendepunkte.
Didaktischer Kommentar
Da die Einführung der Ableitung rein algebraisch mit Hilfe des Differentialquotients oftmals sehr trocken und uninteressant ist, bietet die Möglichkeit der visuellen Herangehensweise einen deutlichen Vorteil. Über den graphischen Weg erhalten die SuS sehr schnell eine Vorstellung, wie man sich die lokale Linearisierung eines Funktionsgraphen zu Nutzen machen kann und was die Tangente an einem beliebigen Punkt des Graphen bedeutet. Die SuS können in dieser Arbeitsphase sehr gut in Gruppen gemeinsam zu den gewünschten Ergebnissen gelangen und benötigen weniger das Leiten und Eingreifen des Lehrers. Dabei lernen die SuS mathematische Sachverhalte einander zu erklären und dadurch gemeinsam das Lernziel zu erreichen. Aufgrund der benutzten technischen Werkzeuge lässt sich leicht die Aufgabenstellung verändern (die Ausgangsfunktion und den gegebenen Punkt des Graphen) und bietet dadurch eine gute Reproduzierbarkeit.
Ein wichtiger Aspekt in der graphischen Herangehensweise ist außerdem, dass sich durch die Visualisierung ein leichteres Verständnis des Differentialquotienten ergibt.
Des Weiteren ermöglicht es den Schülern spätere Begriffe wie Stetigkeit oder Änderungsrate schneller zu begreifen und auf die Linearisierung durch das Funktionenmikroskop zurückzuführen.