Atmosphäre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: Unterschied zwischen den Versionen
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== Eine Filmvorführung in Frankreich == | == Eine Filmvorführung in Frankreich == | ||
{{Zitat|Zuerst liefen die „Neuigkeiten aus aller Welt“ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England: die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade: auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: „Kaiser Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien“. Auf einmal sah ich auf der Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal: der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf der Leinwand erschien und, ein bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten die Leute aus Tours gutmütig über den alten Herrn mit dem weißen Backenbart. Dann fuhr auf dem Bilde der Zug ein, der erste, der zweite, der dritte Waggon. Die Tür des Salonwagens öffnete sich und heraus stieg, den Schnurrbart hoch gesträubt, in österreichischer Generalsuniform, Wilhelm II. In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz spontan in dem dunklen Raume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie und pfiff, Frauen, Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich beleidigt hätte. Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Politik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. Ich erschrak. Ich erschrak bis tief ins Herz hinein. Denn ich spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, daß selbst ein flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten konnte. Es war nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde. Als dann wieder andere Bilder kamen, war alles vergessen. Die Leute lachten über den jetzt abrollenden komischen Film aus vollen Bäuchen und schlugen sich vor Vergnügen auf die Knie, daß es krachte. Es war nur eine Sekunde gewesen, aber doch eine, die mir zeigte, wie leicht es sein könnte, im Augenblick ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen. Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich das in Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so erschüttert. Aber daß bis tief in die Provinz, bis tief in das gutmütige, naive Volk der Haß sich eingefressen, ließ mich schauern.|Stefan Zweig: "Die Welt von Gestern"}} | {{Zitat|Zuerst liefen die „Neuigkeiten aus aller Welt“ über die Leinwand. Ein Bootrennen in England: die Leute schwatzten und lachten. Es kam eine französische Militärparade: auch hier nahmen die Leute wenig Anteil. Dann als drittes Bild: „Kaiser Wilhelm besucht Kaiser Franz Joseph in Wien“. Auf einmal sah ich auf der Leinwand den wohlvertrauten Perron des häßlichen Wiener Westbahnhofs mit ein paar Polizisten, die auf den einfahrenden Zug warteten. Dann ein Signal: der alte Kaiser Franz Joseph, der die Ehrengarde entlangschritt, um seinen Gast zu empfangen. Wie der alte Kaiser auf der Leinwand erschien und, ein bißchen gebückt schon, ein bißchen wacklig die Front entlangschritt, lachten die Leute aus Tours gutmütig über den alten Herrn mit dem weißen Backenbart. Dann fuhr auf dem Bilde der Zug ein, der erste, der zweite, der dritte Waggon. Die Tür des Salonwagens öffnete sich und heraus stieg, den Schnurrbart hoch gesträubt, in österreichischer Generalsuniform, Wilhelm II. In diesem Augenblick, da Kaiser Wilhelm im Bilde erschien, begann ganz spontan in dem dunklen Raume ein wildes Pfeifen und Trampeln. Alles schrie und pfiff, Frauen, Männer, Kinder höhnten, als ob man sie persönlich beleidigt hätte. Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Politik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. Ich erschrak. Ich erschrak bis tief ins Herz hinein. Denn ich spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland aufgestachelt worden waren, daß selbst ein flüchtiges Bild auf der Leinwand sie schon zu einem Ausbruch verleiten konnte. Es war nur eine Sekunde, eine einzige Sekunde. Als dann wieder andere Bilder kamen, war alles vergessen. Die Leute lachten über den jetzt abrollenden komischen Film aus vollen Bäuchen und schlugen sich vor Vergnügen auf die Knie, daß es krachte. Es war nur eine Sekunde gewesen, aber doch eine, die mir zeigte, wie leicht es sein könnte, im Augenblick ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen. Der ganze Abend war mir verdorben. Ich konnte nicht schlafen. Hätte sich das in Paris abgespielt, es hätte mich gleichfalls beunruhigt, aber nicht so erschüttert. Aber daß bis tief in die Provinz, bis tief in das gutmütige, naive Volk der Haß sich eingefressen, ließ mich schauern.|Stefan Zweig: "[https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/weltgest/chap009.html Die Welt von Gestern]"}} | ||
== Reaktion auf die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand == | == Reaktion auf die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand == |
Version vom 9. Februar 2022, 10:14 Uhr
Stefan Zweig hat in seiner Autobiographie "Die Welt von Gestern" drei Ereignisse vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschrieben, die seiner Meinung nach die Atmosphäre in dieser Zeit besonders kennzeichneten.